Das Wort "Krise" bezeichnet "eine Zeit intensiver Schwierigkeiten, Probleme oder Gefahren". Als Synonym für Notfälle und Katastrophen suggeriert das Wort die Notwendigkeit einer sofortigen Reaktion oder Intervention. Außerdem kann es benutzt werden, um Ausnahmezustände zu rechtfertigen. Die Verwendung des Wortes "Krise" kann Regierungen außerordentliche Machtbefugnisse geben und es Behörden ermöglichen, über den normalen Rahmen hinaus zu handeln. "Krise" wird auch oft in Medien verwendet, um die Aufmerksamkeit der Leser:innen zu erregen und den Ernst einer Situation zu betonen. Es kann aber auch irreführend sein.
Im Jahr 2015 wurden in der Europäischen Union über eine Million irreguläre Eintritte registriert, was einen starken Anstieg der irregulären Migration im Vergleich zu Vorjahren darstellt. Medien und Politiker:innen riefen schnell eine "europäische Migrationskrise" aus. Der Begriff ist auch heute noch weit verbreitet, obwohl die Zahl der Neuankömmlinge in den letzten Jahren auf das Niveau von vor 2014 gesunken ist und die Europäische Kommission 2019 das Ende der "Krise" erklärt hat. Während es eine kurze Zeitspanne gegeben haben mag, in der der Begriff "Krise" gerechtfertigt war, ist die fortgesetzte Verwendung des Wortes heute sowohl ungenau als auch irreführend.
Darüber hinaus wird der Fokus auf die große Zahl irregulärer Eintritte gelegt, ohne den wichtigen Kontext zu erklären. Beispielsweise war die Anzahl asylsuchender Menschen in Euopa immer - selbst zum Höhepunkt im Jahr 2015 - viel geringer als die geschätzten 13,9 Millionen Geflüchteten unter dem Mandat des UNHCR die zu diesem Zeitpunkt in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen lebten. Dazu gehören Millionen von Syrer:innen, die zuvor in Nachbarländer geflohen waren. Tatsächlich versucht nur ein Bruchteil der weltweit über 80 Millionen Menschen, die von Zwangsvertreibung betroffen sind, nach Europa zu gelangen, wie wir in unserem zweiten Blog der Info-Serie beschrieben haben.
Die Bezeichnung des Anstiegs an gemischter Migration in die EU als "Krise", hat es ermöglicht, dass in Europa - zum Beispiel in Frankreich, Ungarn und Griechenland - ein fortdauernder Ausnahmezustand geschaffen wurde. Manchmal wurde dieser offiziell ausgerufen, manchmal nicht, aber auf jeden Fall wurden die Rechte von Menschen auf der Flucht verletzt. Diese sogenannte Krise führt dazu, dass Menschen auf der Flucht gewaltsam daran gehindert werden, in die EU zu kommen, oder dass diejenigen, die sich physisch in der EU aufhalten, von der vollen Teilnahme an der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Trotz des Versprechens, die zivilen Freiheiten und Menschenrechte zu schützen und zu fördern, haben sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten zunehmend vor ihrer Verantwortung, die Rechte von Geflüchteten und anderen Menschen auf der Flucht zu schützen, gedrückt.
Im März 2020 öffnete die Türkei ihre Grenzen nach Griechenland, was dieses Krisennarrativ noch verstärkte. Orchestriert wurde das von der Türkei und als Reaktion darauf setzten griechische und europäische Grenzschützer:innen Tränengas, Betäubungsgranaten, Schlagstöcke, Gummigeschosse und sogar scharfe Munition ein, um Menschen zurückzudrängen, die - freiwillig oder unfreiwillig - versuchten, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Dies war ein erschreckendes Beispiel dafür, dass der "Ausnahmezustand" eine Verletzung der Grundrechte im Namen einer "Krise" rechtfertigt; ein Beispiel dafür, wie das Narrativ "Krise" Missbräuche von beiden Seiten zulässt und Menschen auf der Flucht als politisches Druckmittel, als Figuren in ihrem Schachspiel, benutzt werden.
Als sich Tausende von Menschen auf der türkischen Seite der Grenze versammelten, riefen die Medien schnell eine "Grenzkrise" aus. Griechenland berief sich daraufhin auf eine Notstandsklausel, die es ermöglichen sollte, die Annahme von Asylanträgen vorübergehend zu stoppen. Das wurde jedoch später als Verstoß gegen internationales Recht eingestuft. Innerhalb weniger Tage ermöglichte die "Krise" Griechenland, internationales Recht zu missachten und seine Menschenrechtsverpflichtungen zu ignorieren, ohne dass es zu Konsequenzen kam, und erhielt sogar Unterstützung und Lob von der EU, weil es als "Schutzschild" für den Rest des Blocks fungierte.
Viele andere illegale Handlungen der EU-Regierungen werden ebenfalls von der Mehrheit der Bürger:innen und Verbündeten als Folge der wahrgenommenen "Migrationskrise" toleriert: Geflüchtetenlager mit erbärmlichen Bedingungen, Polizeibrutalität gegenüber auf der Straße lebenden Menschen, Kinder, die jahrelang keinen Zugang zu Bildung haben, und Todesfälle, die durch die anhaltende Gewalt und Brutalität an den Binnen- und Außengrenzen der EU verursacht werden. Entgegen der vielfach betonten Werte der EU werden extreme Gewalt und Rechtsverletzungen an und innerhalb der EU-Grenzen als unvermeidliches Nebenprodukt der "Krise" akzeptiert. Migration in die EU weiterhin als "Krise" zu bezeichnen, gibt den Regierungen einen Vorwand, illegal zu handeln und die grundlegenden Menschenrechte der Menschen auf der Flucht zu verletzen.
Politiker:innen in ganz Europa haben die sogenannte "Migrationskrise" als Mittel genutzt, um Wahlen zu gewinnen und ihre politische Agenda voranzutreiben. Von Frankreich bis Österreich sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch, die die Migration für viele Probleme der Einwohner:innen dieser Länder verantwortlich machen. In Großbritannien haben Politiker:innen eine "Krise" erfunden, um eine Politik zu betreiben, mit der sie bei vielen Wähler:innen Unterstützung gewinnen. Obwohl im Jahr 2020 mehr als 8.000 Menschen den Ärmelkanal in Booten überquerten - im Vergleich zu etwa 300 im Jahr 2019 - stellt dies keinen Anstieg der irregulären Migration nach Großbritannien dar. Stattdessen sind diese Zahlen vor allem durch Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen ankommen, bedingt. Außerdem sind diese Zahlen statistisch gesehen extrem klein und rechtfertigen nicht die extreme Konnotation des Wortes "Krise".
Trotzdem behaupteten einige britische Politiker:innen, dass Asylsuchende in England "eindringen" würden, und ein ehemaliges Kommando der Royal Marines wurde zum "geheimen Kommandanten für die Bedrohung im Kanal" ernannt. Die Verwendung der Worte "Invasion", "Krise" oder "Bedrohung" ist "eindeutig dazu gedacht, Angst einzuflößen", eine Taktik, die in der Vergangenheit erfolgreich eingesetzt wurde, um Wahlen zu gewinnen oder Unterstützung für Kampagnen wie den Brexit zu gewinnen.
Die Verwendung des Wortes "Krise" impliziert, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist und alle auftretenden Tragödien unvermeidlich sind. Wenn Nachrichtenagenturen Bilder von Menschen auf überfüllten Schlauchbooten, die auf dem Meer treiben, oder von verheerenden Schiffswracks verwenden, wird oft impliziert, dass diese Bilder ein tragischer, aber unvermeidlicher Teil dieser "Krise" sind. Durch diesen Fokus übersieht man völlig, dass die EU einen entscheidenden Anteil an den jetzigen Zuständen hat, wenn Millionen von Menschen ihr Leben riskieren, um durch gefährliche Mittelmeer- und Landrouten nach Europa zu gelangen. Die zunehmende Grenzsicherung und Externalisierung haben es den Menschen praktisch unmöglich gemacht, Asyl zu beantragen oder auf andere Weise zu migrieren, sodass sie keine andere Wahl haben, als Schlepper zu bezahlen und gefährliche Überfahrten zu wagen. Expert:innen erklären seit Jahren, dass der Mangel an sicheren und legalen Wegen für Asylsuchende, diese Menschen nicht von der Flucht abhält, sondern sie nur auf noch gefährlichere Routen zwingt. Dass Menschen zu verzweifelten Maßnahmen greifen, um in die EU zu gelangen, ist keine Folge der angeblichen "Krise", sondern eine direkte Folge der restriktiven Einwanderungspolitik.
Das chaotische und überfüllte Asyl-Aufnahmesystem an den EU-Binnengrenzen trägt ebenfalls zu der Vorstellung bei, dass es eine "Migrationskrise" gibt. Die eigentliche Wurzel des Problems liegt jedoch in der bewusst vernachlässigenden EU- und Regierungspolitik. Bilder von Geflüchtetenlagern und Menschen, die auf der Straße leben, implizieren, dass die Zahl der Ankommenden zu groß ist. Es suggeriert, dass die EU-Einrichtungen überfordert sind und es nicht genug Platz gibt, um Asylsuchende angemessen unterzubringen. Die unmenschlichen Bedingungen, mit denen Asylsuchende nach ihrer Ankunft oft konfrontiert werden, sind jedoch eine direkte Folge der europäischen Untätigkeit und einer Politik, die darauf abzielt, mehr Menschen von der Ankunft abzuhalten.
Es gibt keinen stichhaltigen Grund, warum die EU kein sicheres und gesundes Umfeld für Asylsuchende sein kann. Vor allem nicht, wenn es sich bei einer Gesamtbevölkerung von fast 448 Millionen im Jahr 2020, um lediglich 470.000 Menschen handelte. Die Migration als "Krise" zu bezeichnen, ist politisch bequem für Regierungen. Aber was wir wirklich sehen, ist eine Krise ihrer Migrationspolitik, die zu so viel Chaos und menschlichem Leid an EU-Grenzen führt.
Auch wenn es schwierig sein kann, ist es wichtig, sich Begriffe wie "Flüchtlingskrise" oder "Migrationskrise" abzugewöhnen. Es handelt sich um humanitäre Probleme und sie nicht als solche zu erkennen, schafft und verursacht noch mehr Leid. Migration als "Krise" zu bezeichnen, unterstützt das von der EU propagierte Narrativ, dass die irreguläre Migration außer Kontrolle geraten ist und gestoppt werden muss. Menschen haben sich aber schon immer über Grenzen hinweg bewegt - nur so konnten wir als Spezies in einer sich verändernden Welt überleben. Und da der Klimawandel ein zunehmender Faktor bei den Gründen für die Migration der Menschen ist, wird dies nur noch dringlicher werden.
Anstatt das Etikett "Krise" auf die Gemeinschaften von Menschen anzuwenden, die auf der Suche nach Sicherheit, Frieden und einer besseren Zukunft migrieren, müssen wir dieses Etikett verwenden, um die Krise der Politik und die Krise der Menschlichkeit besser zu beschreiben, die sich innerhalb unserer Regierungen und im Kern der EU-Institution entfaltet. Die Regierungen müssen dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten missachten und unmenschliche Situationen sowohl an den EU-Grenzen als auch innerhalb der EU schaffen. Es kommt auf die Sprache an, die wir verwenden. Deshalb ist es wichtig, dass wir einen anderen Weg finden, um über das Versagen der EU bei der angemessenen Aufnahme und Integration von Menschen auf der Flucht zu sprechen. Die Migrations-"Krise" ist ein Mythos, die Krise der EU-Politik ist real.
Europe's migration 'crisis' isn't about numbers. It's about prejudice⏐The Guardian
Managing the Unmanageable? Understanding Europe's Response to the Migration ‘Crisis’⏐Human Geography
Narrating Europe's Migration and Refugee ‘Crisis’⏐Human Geography
European leaders are manufacturing a "migration crisis" for political gain⏐Amnesty International
Emergency and Migration, Race and the Nation⏐UCLA Law Review
Das Wort "Krise" bezeichnet "eine Zeit intensiver Schwierigkeiten, Probleme oder Gefahren". Als Synonym für Notfälle und Katastrophen suggeriert das Wort die Notwendigkeit einer sofortigen Reaktion oder Intervention. Außerdem kann es benutzt werden, um Ausnahmezustände zu rechtfertigen. Die Verwendung des Wortes "Krise" kann Regierungen außerordentliche Machtbefugnisse geben und es Behörden ermöglichen, über den normalen Rahmen hinaus zu handeln. "Krise" wird auch oft in Medien verwendet, um die Aufmerksamkeit der Leser:innen zu erregen und den Ernst einer Situation zu betonen. Es kann aber auch irreführend sein.
Im Jahr 2015 wurden in der Europäischen Union über eine Million irreguläre Eintritte registriert, was einen starken Anstieg der irregulären Migration im Vergleich zu Vorjahren darstellt. Medien und Politiker:innen riefen schnell eine "europäische Migrationskrise" aus. Der Begriff ist auch heute noch weit verbreitet, obwohl die Zahl der Neuankömmlinge in den letzten Jahren auf das Niveau von vor 2014 gesunken ist und die Europäische Kommission 2019 das Ende der "Krise" erklärt hat. Während es eine kurze Zeitspanne gegeben haben mag, in der der Begriff "Krise" gerechtfertigt war, ist die fortgesetzte Verwendung des Wortes heute sowohl ungenau als auch irreführend.
Darüber hinaus wird der Fokus auf die große Zahl irregulärer Eintritte gelegt, ohne den wichtigen Kontext zu erklären. Beispielsweise war die Anzahl asylsuchender Menschen in Euopa immer - selbst zum Höhepunkt im Jahr 2015 - viel geringer als die geschätzten 13,9 Millionen Geflüchteten unter dem Mandat des UNHCR die zu diesem Zeitpunkt in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen lebten. Dazu gehören Millionen von Syrer:innen, die zuvor in Nachbarländer geflohen waren. Tatsächlich versucht nur ein Bruchteil der weltweit über 80 Millionen Menschen, die von Zwangsvertreibung betroffen sind, nach Europa zu gelangen, wie wir in unserem zweiten Blog der Info-Serie beschrieben haben.
Die Bezeichnung des Anstiegs an gemischter Migration in die EU als "Krise", hat es ermöglicht, dass in Europa - zum Beispiel in Frankreich, Ungarn und Griechenland - ein fortdauernder Ausnahmezustand geschaffen wurde. Manchmal wurde dieser offiziell ausgerufen, manchmal nicht, aber auf jeden Fall wurden die Rechte von Menschen auf der Flucht verletzt. Diese sogenannte Krise führt dazu, dass Menschen auf der Flucht gewaltsam daran gehindert werden, in die EU zu kommen, oder dass diejenigen, die sich physisch in der EU aufhalten, von der vollen Teilnahme an der Gesellschaft ausgeschlossen werden. Trotz des Versprechens, die zivilen Freiheiten und Menschenrechte zu schützen und zu fördern, haben sich die EU und ihre Mitgliedsstaaten zunehmend vor ihrer Verantwortung, die Rechte von Geflüchteten und anderen Menschen auf der Flucht zu schützen, gedrückt.
Im März 2020 öffnete die Türkei ihre Grenzen nach Griechenland, was dieses Krisennarrativ noch verstärkte. Orchestriert wurde das von der Türkei und als Reaktion darauf setzten griechische und europäische Grenzschützer:innen Tränengas, Betäubungsgranaten, Schlagstöcke, Gummigeschosse und sogar scharfe Munition ein, um Menschen zurückzudrängen, die - freiwillig oder unfreiwillig - versuchten, von der Türkei nach Griechenland zu gelangen. Dies war ein erschreckendes Beispiel dafür, dass der "Ausnahmezustand" eine Verletzung der Grundrechte im Namen einer "Krise" rechtfertigt; ein Beispiel dafür, wie das Narrativ "Krise" Missbräuche von beiden Seiten zulässt und Menschen auf der Flucht als politisches Druckmittel, als Figuren in ihrem Schachspiel, benutzt werden.
Als sich Tausende von Menschen auf der türkischen Seite der Grenze versammelten, riefen die Medien schnell eine "Grenzkrise" aus. Griechenland berief sich daraufhin auf eine Notstandsklausel, die es ermöglichen sollte, die Annahme von Asylanträgen vorübergehend zu stoppen. Das wurde jedoch später als Verstoß gegen internationales Recht eingestuft. Innerhalb weniger Tage ermöglichte die "Krise" Griechenland, internationales Recht zu missachten und seine Menschenrechtsverpflichtungen zu ignorieren, ohne dass es zu Konsequenzen kam, und erhielt sogar Unterstützung und Lob von der EU, weil es als "Schutzschild" für den Rest des Blocks fungierte.
Viele andere illegale Handlungen der EU-Regierungen werden ebenfalls von der Mehrheit der Bürger:innen und Verbündeten als Folge der wahrgenommenen "Migrationskrise" toleriert: Geflüchtetenlager mit erbärmlichen Bedingungen, Polizeibrutalität gegenüber auf der Straße lebenden Menschen, Kinder, die jahrelang keinen Zugang zu Bildung haben, und Todesfälle, die durch die anhaltende Gewalt und Brutalität an den Binnen- und Außengrenzen der EU verursacht werden. Entgegen der vielfach betonten Werte der EU werden extreme Gewalt und Rechtsverletzungen an und innerhalb der EU-Grenzen als unvermeidliches Nebenprodukt der "Krise" akzeptiert. Migration in die EU weiterhin als "Krise" zu bezeichnen, gibt den Regierungen einen Vorwand, illegal zu handeln und die grundlegenden Menschenrechte der Menschen auf der Flucht zu verletzen.
Politiker:innen in ganz Europa haben die sogenannte "Migrationskrise" als Mittel genutzt, um Wahlen zu gewinnen und ihre politische Agenda voranzutreiben. Von Frankreich bis Österreich sind rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch, die die Migration für viele Probleme der Einwohner:innen dieser Länder verantwortlich machen. In Großbritannien haben Politiker:innen eine "Krise" erfunden, um eine Politik zu betreiben, mit der sie bei vielen Wähler:innen Unterstützung gewinnen. Obwohl im Jahr 2020 mehr als 8.000 Menschen den Ärmelkanal in Booten überquerten - im Vergleich zu etwa 300 im Jahr 2019 - stellt dies keinen Anstieg der irregulären Migration nach Großbritannien dar. Stattdessen sind diese Zahlen vor allem durch Veränderungen in der Art und Weise, wie Menschen ankommen, bedingt. Außerdem sind diese Zahlen statistisch gesehen extrem klein und rechtfertigen nicht die extreme Konnotation des Wortes "Krise".
Trotzdem behaupteten einige britische Politiker:innen, dass Asylsuchende in England "eindringen" würden, und ein ehemaliges Kommando der Royal Marines wurde zum "geheimen Kommandanten für die Bedrohung im Kanal" ernannt. Die Verwendung der Worte "Invasion", "Krise" oder "Bedrohung" ist "eindeutig dazu gedacht, Angst einzuflößen", eine Taktik, die in der Vergangenheit erfolgreich eingesetzt wurde, um Wahlen zu gewinnen oder Unterstützung für Kampagnen wie den Brexit zu gewinnen.
Die Verwendung des Wortes "Krise" impliziert, dass die Situation außer Kontrolle geraten ist und alle auftretenden Tragödien unvermeidlich sind. Wenn Nachrichtenagenturen Bilder von Menschen auf überfüllten Schlauchbooten, die auf dem Meer treiben, oder von verheerenden Schiffswracks verwenden, wird oft impliziert, dass diese Bilder ein tragischer, aber unvermeidlicher Teil dieser "Krise" sind. Durch diesen Fokus übersieht man völlig, dass die EU einen entscheidenden Anteil an den jetzigen Zuständen hat, wenn Millionen von Menschen ihr Leben riskieren, um durch gefährliche Mittelmeer- und Landrouten nach Europa zu gelangen. Die zunehmende Grenzsicherung und Externalisierung haben es den Menschen praktisch unmöglich gemacht, Asyl zu beantragen oder auf andere Weise zu migrieren, sodass sie keine andere Wahl haben, als Schlepper zu bezahlen und gefährliche Überfahrten zu wagen. Expert:innen erklären seit Jahren, dass der Mangel an sicheren und legalen Wegen für Asylsuchende, diese Menschen nicht von der Flucht abhält, sondern sie nur auf noch gefährlichere Routen zwingt. Dass Menschen zu verzweifelten Maßnahmen greifen, um in die EU zu gelangen, ist keine Folge der angeblichen "Krise", sondern eine direkte Folge der restriktiven Einwanderungspolitik.
Das chaotische und überfüllte Asyl-Aufnahmesystem an den EU-Binnengrenzen trägt ebenfalls zu der Vorstellung bei, dass es eine "Migrationskrise" gibt. Die eigentliche Wurzel des Problems liegt jedoch in der bewusst vernachlässigenden EU- und Regierungspolitik. Bilder von Geflüchtetenlagern und Menschen, die auf der Straße leben, implizieren, dass die Zahl der Ankommenden zu groß ist. Es suggeriert, dass die EU-Einrichtungen überfordert sind und es nicht genug Platz gibt, um Asylsuchende angemessen unterzubringen. Die unmenschlichen Bedingungen, mit denen Asylsuchende nach ihrer Ankunft oft konfrontiert werden, sind jedoch eine direkte Folge der europäischen Untätigkeit und einer Politik, die darauf abzielt, mehr Menschen von der Ankunft abzuhalten.
Es gibt keinen stichhaltigen Grund, warum die EU kein sicheres und gesundes Umfeld für Asylsuchende sein kann. Vor allem nicht, wenn es sich bei einer Gesamtbevölkerung von fast 448 Millionen im Jahr 2020, um lediglich 470.000 Menschen handelte. Die Migration als "Krise" zu bezeichnen, ist politisch bequem für Regierungen. Aber was wir wirklich sehen, ist eine Krise ihrer Migrationspolitik, die zu so viel Chaos und menschlichem Leid an EU-Grenzen führt.
Auch wenn es schwierig sein kann, ist es wichtig, sich Begriffe wie "Flüchtlingskrise" oder "Migrationskrise" abzugewöhnen. Es handelt sich um humanitäre Probleme und sie nicht als solche zu erkennen, schafft und verursacht noch mehr Leid. Migration als "Krise" zu bezeichnen, unterstützt das von der EU propagierte Narrativ, dass die irreguläre Migration außer Kontrolle geraten ist und gestoppt werden muss. Menschen haben sich aber schon immer über Grenzen hinweg bewegt - nur so konnten wir als Spezies in einer sich verändernden Welt überleben. Und da der Klimawandel ein zunehmender Faktor bei den Gründen für die Migration der Menschen ist, wird dies nur noch dringlicher werden.
Anstatt das Etikett "Krise" auf die Gemeinschaften von Menschen anzuwenden, die auf der Suche nach Sicherheit, Frieden und einer besseren Zukunft migrieren, müssen wir dieses Etikett verwenden, um die Krise der Politik und die Krise der Menschlichkeit besser zu beschreiben, die sich innerhalb unserer Regierungen und im Kern der EU-Institution entfaltet. Die Regierungen müssen dafür verantwortlich gemacht werden, dass sie ihre Verpflichtungen gegenüber den Menschenrechten missachten und unmenschliche Situationen sowohl an den EU-Grenzen als auch innerhalb der EU schaffen. Es kommt auf die Sprache an, die wir verwenden. Deshalb ist es wichtig, dass wir einen anderen Weg finden, um über das Versagen der EU bei der angemessenen Aufnahme und Integration von Menschen auf der Flucht zu sprechen. Die Migrations-"Krise" ist ein Mythos, die Krise der EU-Politik ist real.
Europe's migration 'crisis' isn't about numbers. It's about prejudice⏐The Guardian
Managing the Unmanageable? Understanding Europe's Response to the Migration ‘Crisis’⏐Human Geography
Narrating Europe's Migration and Refugee ‘Crisis’⏐Human Geography
European leaders are manufacturing a "migration crisis" for political gain⏐Amnesty International
Emergency and Migration, Race and the Nation⏐UCLA Law Review