Frontex ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache und wurde 2004 gegründet, um "den integrierten Schutz der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu verbessern". Sie wurde ohne Parlamentsbeschluss eingerichtet und erhielt erst nach ihrer Gründung die parlamentarische Legitimation. Ihr Fokus liegt auf dem Schutz der "EU-Außengrenzen", was von den EU-Mitgliedsstaaten nach den Anschlägen von 11. September in den USA begrüßt wurde. Nach den Ereignissen von 2015 schlug die EU-Kommission eine deutliche Ausweitung des Frontex-Mandats und -Budgets vor, die anschließend vom Europäischen Rat genehmigt wurde. Daraus entstand die jetzige "Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache", die nach weiterhin als "Frontex" bezeichnet wurde. Seitdem hat sich die Agentur exponentiell vergrößert, hat 26 Mitgliedsländer und ist derzeit in mindestens 22 Ländern sowohl an Land- als auch an Seegrenzen tätig oder präsent. Weitere Informationen darüber, was Frontex ist und wie sie arbeitet, findet ihr in unserem Blogbeitrag vom November: Frontex: Schutz oder Missbrauch?
Wie im oben genannten Artikel beschrieben, gibt es immer mehr Beweise dafür, dass Frontex aktiv an Pushbacks an den EU-Außengrenzen beteiligt war. Zuletzt gab es sogar Berichte über Pushbacks von Nicht-EU-Ländern zu EU-Ländern: zum Beispiel von Albanien nach Griechenland. Sowohl Josoor als auch das Border Violence Monitoring Network (BVMN) haben Zeugenaussagen von Menschen auf der Flucht dokumentiert, die nationale Behörden in Frontex-Einsatzgebieten und auch Frontex-Beamte selbst beschuldigen, an Pushbacks beteiligt zu sein.
Zu den Personen, die in diesen Berichten identifiziert werden, gehören Beamte, welche die markante blaue Armbinde der Frontex-Beamten tragen. Es gibt eine Fülle von Beweisen, die Beamte mit Frontex-Insignien oder -Identifikationen beschreiben. Diese Zeugenaussagen sind in der BVMN-Datenbank zu finden. Zum Beispiel ein Bericht, der von No Name Kitchen aufgenommen wurde und einen Pushback von neun Personen - darunter auch Kinder - beschreibt, bei dem Beamte "ein hellblaues Band am Oberarm" trugen. Eine andere Zeugenaussage, die von Josoor aufgenommen wurde, dokumentiert einen Pushback von 60 Menschen - darunter ein einjähriges Baby - bei dem "die Flagge der Europäischen Union" an einer "hellblauen Armbinde" zu sehen war.
Auch Frontex-Fahrzeuge wurden in Zeugenaussagen über Pushbacks identifiziert. Oft werden zum Beispiel ausländische Nummernschilder an Fahrzeugen erkannt, die an den Orten wo Menschen illegal inhaftiert werden geparkt sind. Die Befragten berichten vor allem von ungarischen und deutschen Nummernschilder. In mehreren Zeugenaussagen über Pushbacks von Griechenland in die Türkei und nach Bulgarien, ist von maskierten, deutschsprachigen Beamten die Rede, einige mit deutschen Flaggen an ihren Uniformen. Aufgrund mangelnder Transparenz ist die Gesamtzahl der Teams und Offiziere*innen, die in den einzelnen Einsatzgebieten eingesetzt werden, unbekannt. Mindestens 100 deutsche Offiziere*innen sind dauerhaft an Frontex-Missionen beteiligt. Ob es sich bei den sogenannten "maskierten Männern" tatsächlich um Frontex-Offiziere handelt, muss noch bestätigt werden, sollte aber von Frontex sowie von unabhängigen Behörden entweder offengelegt oder untersucht werden.
Frontex wird nicht nur beschuldigt, aktiv an illegalen Pushbacks beteiligt zu sein, sondern ist auch in Pushbacks verwickelt, die von der griechischen Küstenwache (HCG) durchgeführt werden. Erdrückendes Beweismaterial zeigt, wie Frontex geholfen hat, zahlreiche Pushbacks zu vertuschen. Die Agentur wird außerdem beschuldigt, an mehreren anderen Vorfällen von Pushbacks beteiligt zu sein und steht im Verdacht, systematisch mit der HCG zusammenzuarbeiten, um illegale Pushbacks zu vertuschen.
Frontex ist außerdem aktiv an der erzwungenen Rückführung von Drittstaatsangehörigen in ihr Herkunftsland beteiligt. Dieser Teil ihrer Arbeit hat in den letzten fünf Jahren drastisch zugenommen, sodass mittlerweile mehr als 1000 Abschiebeflüge pro Monat gechartert werden. Dies spiegelt teilweise das steigende Budget der Agentur wider, das von sechs Millionen Euro im Jahr 2005 auf 540 Millionen im Jahr 2021 angewachsen ist und weiter steigen soll - die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, Frontex zwischen 2021 und 2027 mit 11 Milliarden (!) Euro auszustatten.
Frontex hat wiederholt Vorwürfe über seine Beteiligung und Mitwirkung bei Pushbacks bestritten. Erst im April 2021 behauptete der Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, es gebe "keine Beweise dafür, dass Frontex oder Beamte, die von den Mitgliedsstaaten im Rahmen von Frontex-Operationen eingesetzt wurden, an illegalen Pushbacks im maritimen Bereich beteiligt waren oder diese gedeckt haben".
Angeblich hat die Agentur Berichte über Mitarbeitende, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, untersucht. Diese Untersuchungen und die angewendeten Methoden waren jedoch völlig undurchsichtig. Sie kamen zu dem Schluss, dass Frontex unschuldig sei, ließen aber auch mehrere Fälle offen, ohne eine endgültige Einschätzung bekannt zu geben. Dies hat zu Vorwürfen geführt, dass die angeblichen Ermittlungen nichts weiter als ein PR-Gag waren, "um Verantwortlichkeit vorzutäuschen".
Frontex hat eine eigene Rechtspersönlichkeit und damit einhergehende Exekutivbefugnisse. Es gibt kein Gremium, das operative Hoheitsrechte über Frontex ausübt - das führt zu einem Verhalten, als ob die Agentur über dem Gesetz stehe. Direktor Leggeri ist nicht verpflichtet, "von einer Regierung oder einer anderen Stelle Weisungen anzufordern oder entgegenzunehmen" und die Agentur selbst "sollte in operativen und technischen Fragen unabhängig sein und über rechtliche, administrative und finanzielle Autonomie verfügen", wie es in der Verordnung 2019/1896 heißt. Die Europäische Kommission ist nicht befugt, der Agentur Weisungen zu erteilen, sodass Frontex diese einfach übergehen und für die fortgesetzte Verletzung von Grundrechten nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Letzten Herbst schrieben wir über ein außerordentliches Treffen zwischen der EU-Kommission und Frontex, das am Dienstag, den 10. November, aufgrund der überwältigenden Beweise und Anschuldigungen der Beteiligung von Frontex an Pushbacks stattfand. Ziel des Treffens war es, diese Vorwürfe zu diskutieren und das weitere Vorgehen zu besprechen. Zivilgesellschaftliche Organisationen forderten die längst überfällige und vorgeschriebene Einstellung von Grundrechtsbeobachter*innen und eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Nach dem Treffen kündigte der Europäische Ombudsmann an, eine Untersuchung von Frontex einzuleiten, um die Effektivität und Transparenz des "Beschwerdeverfahrens" sowie die Rolle und Unabhängigkeit des Grundrechtsbeauftragten zu bewerten. Noch sind die Ergebnisse nicht bekannt, aber inzwischen gibt es eine zusätzliche Untersuchung über die Zurückhaltung von Informationen und die Rolle von Frontex-Booten in der Ägäis. Weitere kürzlich durchgeführte unabhängige Untersuchungen haben ebenfalls anhaltende Bedenken über die Arbeitsweise von Frontex und die ständige Missachtung der Menschenrechte von Asylbewerber*innen offenbart.
Die eklatanten und andauernden Leugnungen durch Leggeri sowie die unzureichenden Untersuchungen zeigen die mangelnde Bereitschaft der Agentur, diese schwerwiegenden Grundrechtsprobleme angemessen anzugehen. Es gibt immer mehr Reaktionen und Frustration unter EU-Politiker*innen, die versuchen, diesen Mangel an Verantwortlichkeit zu beheben. Im März 2021 stimmte das Europäische Parlament dafür, die Absegnung des Frontex-Budgets zu verschieben, bis Bedenken ausgeräumt sind. Dazu zählt insbesondere, dass es die 40 Grundrechtsbeobachter*innen immer noch nicht gibt, die eigentlich bis zum Stichtag im Dezember 2020 hätten eingestellt werden sollten (gemäß Artikel 110(6), Verordnung 2019). Diese Verordnung wurde am 13. November 2019 beschlossen, um die Frist einzuhalten, hätte Frontex viel früher mit der Einstellung beginnen sollen. Das geschah aber nicht, obwohl es dafür genügend Zeit gab.
Mitglieder des Europäischen Parlaments haben sich Aufrufen angeschlossen, Frontex öffentlich zu verurteilen und eine unabhängige Untersuchungen durchzuführen.
Darüber hinaus gibt es besorgniserregende Berichte über Treffen von Frontex-Mitarbeitenden mit Lobbyvertreter*innen von Waffenherstellern in den letzten Jahren, ohne dass transparent gemacht wurde, wer dabei anwesend war und was besprochen wurde. Obwohl Frontex-Beamte momentan nicht bewaffnet sein dürfen, gibt es Pläne, Frontex-Beamte in Griechenland bereits ab diesem Sommer mit Waffen auszustatten.
Bei Frontex gibt es aber auch andere Probleme. Im Februar 2021 berichtete Der Spiegel ausführlich darüber, wie Leggeri die Grundrechtsbeobachterin der Agentur wiederholt unterminierte und sie schließlich durch ein ehemaliges Kabinettsmitglied ersetzte - ein klarer Interessenkonflikt. Außerdem wurde er des finanziellen Betrugs verdächtigt und es gab Berichte über Belästigungen am Arbeitsplatz sowie allgemeiner Inkompetenz in der Führung der Agentur.
Als Ergebnis dieser Vorwürfe wird die Agentur derzeit von der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF untersucht. Sowohl Leggeris Büro als auch das seines Kabinettschefs wurden im Dezember 2020 durchsucht. Ein OLAF-Sprecher lehnte einen Kommentar ab, bestätigte aber die laufenden Ermittlungen.
Pushbacks verstoßen gegen nationales, EU- und internationales Recht sowie gegen grundlegende Menschenrechte und Grundfreiheiten. Pushbacks sind illegal. Dennoch passieren sie täglich an Europas Außengrenzen: die Beweise für die Beteiligung und Mittäterschaft von Frontex bei Pushbacks sind überwältigend. Während sich die Europäische Union als Wiege der Menschenrechte präsentiert, erhält Frontex mehr Mittel von der EU als jede andere EU-finanzierte Agentur. Illegale Praktiken und systematische Rechtsverletzungen, die mit Mitteln der Europäischen Union finanziert werden, können nicht toleriert werden.
Es würde nichts ändern, Leggeri einfach durch einen anderen Direktor zu ersetzen. Das Problem ist systemimmanent und tief in der Agentur verankert. Das Problem liegt bei der Agentur selbst, nicht bei Einzelpersonen, mehrere Reformen von Frontex waren bereits erfolglos.
Aus diesen Gründen fordern wir einen unabhängigen Überwachungsmechanismus, der die Verwicklung von Frontex in diesen groben Grundrechtsverletzungen untersucht. Dauerhafte Überprüfungen und Untersuchungen sollten unabhängige gerichtliche Überprüfungen mit unabhängigen Schiedsrichtern umfassen, um sicherzustellen, dass Ergebnisse objektiv und zuverlässig sind.
Frontex hat mehrfach bewiesen, dass die Organisation nicht reformiert werden kann. Der Widerspruch zwischen dem politischen Mandat Migration zu unterbinden und der menschenrechtlichen Verpflichtung Grundrechte zu schützen, ist einfach zu groß. Wir bei Josoor glauben, dass die einzige Lösung darin besteht, Frontex durch eine echte europäische Küstenwache zu ersetzen, die einen Such- und Rettungsdienst koordiniert. Dies ist der einzige Weg, um Grundrechtsverletzungen an unseren Grenzen zu beenden und eine sichere Überfahrt zu gewährleisten.
In Anbetracht all dessen ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Frontex selbst nur ein Symptom des europäischen Grenzregimes ist, das auf zunehmender Externalisierung und strafender Abschreckung statt auf Menschenrechten und Grundfreiheiten aufgebaut ist. Damit illegale Pushbacks und andere grobe Menschenrechtsverletzungen an unseren Grenzen ein Ende haben, müssen wir die Wahrnehmung von und den Umgang mit Fluchtbewegung ändern. Wir müssen aufhören, diese als Bedrohung und Sicherheitsproblem darzustellen und sie stattdessen als das sehen, was sie ist: eine für uns alle überlebensnotwendige Funktion der globalen Gesellschaft, die schon immer Teil unserer Menschheitsgeschichte war. Wir müssen aufhören, Menschen auf der Flucht als ein Problem zu behandeln, das es loszuwerden gilt, und stattdessen als Menschen, deren Grundrechte in unseren Gesetzen verankert sind. Mit unserem derzeitigen Grenzregime zerstören wir nicht nur täglich Menschenleben, sondern auch unsere eigenen Demokratien.
Video: “Frontex: EUs Deportation Machine” | Lighthouse Reports
Frontex: Scandals Plunge Europe's Border Agency into Turmoil | DER SPIEGEL
EU refuses to approve Frontex’s budget over human rights concerns | European Union News | Al Jazeera
'Frontex should have no role in asylum procedures' | MEP Birgit Sippel
Frontex Turns a Blind Eye to Greece’s Border Abuses | Human Rights Watch
EU Border Agency Pulls out of Hungary Over Rights Abuses | New York Times
Twitter Thread from @StatewatchEU exposing Frontex’s Human Rights Abuses: Statewatch
Testimony Database: Border Violence Monitoring Network
Frontex Involvement in Pushback Operations | Border Violence Monitoring Network
EU: Tens of thousands of people call for Frontex director to step down | Statewatch
Bundesregierung will Push-backs nicht selbst aufklären
EUROPAMAGAZIN: Illegale Pushbacks - Was macht die EU?
Frontex ist die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache und wurde 2004 gegründet, um "den integrierten Schutz der Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zu verbessern". Sie wurde ohne Parlamentsbeschluss eingerichtet und erhielt erst nach ihrer Gründung die parlamentarische Legitimation. Ihr Fokus liegt auf dem Schutz der "EU-Außengrenzen", was von den EU-Mitgliedsstaaten nach den Anschlägen von 11. September in den USA begrüßt wurde. Nach den Ereignissen von 2015 schlug die EU-Kommission eine deutliche Ausweitung des Frontex-Mandats und -Budgets vor, die anschließend vom Europäischen Rat genehmigt wurde. Daraus entstand die jetzige "Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache", die nach weiterhin als "Frontex" bezeichnet wurde. Seitdem hat sich die Agentur exponentiell vergrößert, hat 26 Mitgliedsländer und ist derzeit in mindestens 22 Ländern sowohl an Land- als auch an Seegrenzen tätig oder präsent. Weitere Informationen darüber, was Frontex ist und wie sie arbeitet, findet ihr in unserem Blogbeitrag vom November: Frontex: Schutz oder Missbrauch?
Wie im oben genannten Artikel beschrieben, gibt es immer mehr Beweise dafür, dass Frontex aktiv an Pushbacks an den EU-Außengrenzen beteiligt war. Zuletzt gab es sogar Berichte über Pushbacks von Nicht-EU-Ländern zu EU-Ländern: zum Beispiel von Albanien nach Griechenland. Sowohl Josoor als auch das Border Violence Monitoring Network (BVMN) haben Zeugenaussagen von Menschen auf der Flucht dokumentiert, die nationale Behörden in Frontex-Einsatzgebieten und auch Frontex-Beamte selbst beschuldigen, an Pushbacks beteiligt zu sein.
Zu den Personen, die in diesen Berichten identifiziert werden, gehören Beamte, welche die markante blaue Armbinde der Frontex-Beamten tragen. Es gibt eine Fülle von Beweisen, die Beamte mit Frontex-Insignien oder -Identifikationen beschreiben. Diese Zeugenaussagen sind in der BVMN-Datenbank zu finden. Zum Beispiel ein Bericht, der von No Name Kitchen aufgenommen wurde und einen Pushback von neun Personen - darunter auch Kinder - beschreibt, bei dem Beamte "ein hellblaues Band am Oberarm" trugen. Eine andere Zeugenaussage, die von Josoor aufgenommen wurde, dokumentiert einen Pushback von 60 Menschen - darunter ein einjähriges Baby - bei dem "die Flagge der Europäischen Union" an einer "hellblauen Armbinde" zu sehen war.
Auch Frontex-Fahrzeuge wurden in Zeugenaussagen über Pushbacks identifiziert. Oft werden zum Beispiel ausländische Nummernschilder an Fahrzeugen erkannt, die an den Orten wo Menschen illegal inhaftiert werden geparkt sind. Die Befragten berichten vor allem von ungarischen und deutschen Nummernschilder. In mehreren Zeugenaussagen über Pushbacks von Griechenland in die Türkei und nach Bulgarien, ist von maskierten, deutschsprachigen Beamten die Rede, einige mit deutschen Flaggen an ihren Uniformen. Aufgrund mangelnder Transparenz ist die Gesamtzahl der Teams und Offiziere*innen, die in den einzelnen Einsatzgebieten eingesetzt werden, unbekannt. Mindestens 100 deutsche Offiziere*innen sind dauerhaft an Frontex-Missionen beteiligt. Ob es sich bei den sogenannten "maskierten Männern" tatsächlich um Frontex-Offiziere handelt, muss noch bestätigt werden, sollte aber von Frontex sowie von unabhängigen Behörden entweder offengelegt oder untersucht werden.
Frontex wird nicht nur beschuldigt, aktiv an illegalen Pushbacks beteiligt zu sein, sondern ist auch in Pushbacks verwickelt, die von der griechischen Küstenwache (HCG) durchgeführt werden. Erdrückendes Beweismaterial zeigt, wie Frontex geholfen hat, zahlreiche Pushbacks zu vertuschen. Die Agentur wird außerdem beschuldigt, an mehreren anderen Vorfällen von Pushbacks beteiligt zu sein und steht im Verdacht, systematisch mit der HCG zusammenzuarbeiten, um illegale Pushbacks zu vertuschen.
Frontex ist außerdem aktiv an der erzwungenen Rückführung von Drittstaatsangehörigen in ihr Herkunftsland beteiligt. Dieser Teil ihrer Arbeit hat in den letzten fünf Jahren drastisch zugenommen, sodass mittlerweile mehr als 1000 Abschiebeflüge pro Monat gechartert werden. Dies spiegelt teilweise das steigende Budget der Agentur wider, das von sechs Millionen Euro im Jahr 2005 auf 540 Millionen im Jahr 2021 angewachsen ist und weiter steigen soll - die Europäische Kommission hat vorgeschlagen, Frontex zwischen 2021 und 2027 mit 11 Milliarden (!) Euro auszustatten.
Frontex hat wiederholt Vorwürfe über seine Beteiligung und Mitwirkung bei Pushbacks bestritten. Erst im April 2021 behauptete der Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, es gebe "keine Beweise dafür, dass Frontex oder Beamte, die von den Mitgliedsstaaten im Rahmen von Frontex-Operationen eingesetzt wurden, an illegalen Pushbacks im maritimen Bereich beteiligt waren oder diese gedeckt haben".
Angeblich hat die Agentur Berichte über Mitarbeitende, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, untersucht. Diese Untersuchungen und die angewendeten Methoden waren jedoch völlig undurchsichtig. Sie kamen zu dem Schluss, dass Frontex unschuldig sei, ließen aber auch mehrere Fälle offen, ohne eine endgültige Einschätzung bekannt zu geben. Dies hat zu Vorwürfen geführt, dass die angeblichen Ermittlungen nichts weiter als ein PR-Gag waren, "um Verantwortlichkeit vorzutäuschen".
Frontex hat eine eigene Rechtspersönlichkeit und damit einhergehende Exekutivbefugnisse. Es gibt kein Gremium, das operative Hoheitsrechte über Frontex ausübt - das führt zu einem Verhalten, als ob die Agentur über dem Gesetz stehe. Direktor Leggeri ist nicht verpflichtet, "von einer Regierung oder einer anderen Stelle Weisungen anzufordern oder entgegenzunehmen" und die Agentur selbst "sollte in operativen und technischen Fragen unabhängig sein und über rechtliche, administrative und finanzielle Autonomie verfügen", wie es in der Verordnung 2019/1896 heißt. Die Europäische Kommission ist nicht befugt, der Agentur Weisungen zu erteilen, sodass Frontex diese einfach übergehen und für die fortgesetzte Verletzung von Grundrechten nicht zur Rechenschaft gezogen werden kann.
Letzten Herbst schrieben wir über ein außerordentliches Treffen zwischen der EU-Kommission und Frontex, das am Dienstag, den 10. November, aufgrund der überwältigenden Beweise und Anschuldigungen der Beteiligung von Frontex an Pushbacks stattfand. Ziel des Treffens war es, diese Vorwürfe zu diskutieren und das weitere Vorgehen zu besprechen. Zivilgesellschaftliche Organisationen forderten die längst überfällige und vorgeschriebene Einstellung von Grundrechtsbeobachter*innen und eine unabhängige Untersuchung der Vorfälle. Nach dem Treffen kündigte der Europäische Ombudsmann an, eine Untersuchung von Frontex einzuleiten, um die Effektivität und Transparenz des "Beschwerdeverfahrens" sowie die Rolle und Unabhängigkeit des Grundrechtsbeauftragten zu bewerten. Noch sind die Ergebnisse nicht bekannt, aber inzwischen gibt es eine zusätzliche Untersuchung über die Zurückhaltung von Informationen und die Rolle von Frontex-Booten in der Ägäis. Weitere kürzlich durchgeführte unabhängige Untersuchungen haben ebenfalls anhaltende Bedenken über die Arbeitsweise von Frontex und die ständige Missachtung der Menschenrechte von Asylbewerber*innen offenbart.
Die eklatanten und andauernden Leugnungen durch Leggeri sowie die unzureichenden Untersuchungen zeigen die mangelnde Bereitschaft der Agentur, diese schwerwiegenden Grundrechtsprobleme angemessen anzugehen. Es gibt immer mehr Reaktionen und Frustration unter EU-Politiker*innen, die versuchen, diesen Mangel an Verantwortlichkeit zu beheben. Im März 2021 stimmte das Europäische Parlament dafür, die Absegnung des Frontex-Budgets zu verschieben, bis Bedenken ausgeräumt sind. Dazu zählt insbesondere, dass es die 40 Grundrechtsbeobachter*innen immer noch nicht gibt, die eigentlich bis zum Stichtag im Dezember 2020 hätten eingestellt werden sollten (gemäß Artikel 110(6), Verordnung 2019). Diese Verordnung wurde am 13. November 2019 beschlossen, um die Frist einzuhalten, hätte Frontex viel früher mit der Einstellung beginnen sollen. Das geschah aber nicht, obwohl es dafür genügend Zeit gab.
Mitglieder des Europäischen Parlaments haben sich Aufrufen angeschlossen, Frontex öffentlich zu verurteilen und eine unabhängige Untersuchungen durchzuführen.
Darüber hinaus gibt es besorgniserregende Berichte über Treffen von Frontex-Mitarbeitenden mit Lobbyvertreter*innen von Waffenherstellern in den letzten Jahren, ohne dass transparent gemacht wurde, wer dabei anwesend war und was besprochen wurde. Obwohl Frontex-Beamte momentan nicht bewaffnet sein dürfen, gibt es Pläne, Frontex-Beamte in Griechenland bereits ab diesem Sommer mit Waffen auszustatten.
Bei Frontex gibt es aber auch andere Probleme. Im Februar 2021 berichtete Der Spiegel ausführlich darüber, wie Leggeri die Grundrechtsbeobachterin der Agentur wiederholt unterminierte und sie schließlich durch ein ehemaliges Kabinettsmitglied ersetzte - ein klarer Interessenkonflikt. Außerdem wurde er des finanziellen Betrugs verdächtigt und es gab Berichte über Belästigungen am Arbeitsplatz sowie allgemeiner Inkompetenz in der Führung der Agentur.
Als Ergebnis dieser Vorwürfe wird die Agentur derzeit von der EU-Betrugsbekämpfungsbehörde OLAF untersucht. Sowohl Leggeris Büro als auch das seines Kabinettschefs wurden im Dezember 2020 durchsucht. Ein OLAF-Sprecher lehnte einen Kommentar ab, bestätigte aber die laufenden Ermittlungen.
Pushbacks verstoßen gegen nationales, EU- und internationales Recht sowie gegen grundlegende Menschenrechte und Grundfreiheiten. Pushbacks sind illegal. Dennoch passieren sie täglich an Europas Außengrenzen: die Beweise für die Beteiligung und Mittäterschaft von Frontex bei Pushbacks sind überwältigend. Während sich die Europäische Union als Wiege der Menschenrechte präsentiert, erhält Frontex mehr Mittel von der EU als jede andere EU-finanzierte Agentur. Illegale Praktiken und systematische Rechtsverletzungen, die mit Mitteln der Europäischen Union finanziert werden, können nicht toleriert werden.
Es würde nichts ändern, Leggeri einfach durch einen anderen Direktor zu ersetzen. Das Problem ist systemimmanent und tief in der Agentur verankert. Das Problem liegt bei der Agentur selbst, nicht bei Einzelpersonen, mehrere Reformen von Frontex waren bereits erfolglos.
Aus diesen Gründen fordern wir einen unabhängigen Überwachungsmechanismus, der die Verwicklung von Frontex in diesen groben Grundrechtsverletzungen untersucht. Dauerhafte Überprüfungen und Untersuchungen sollten unabhängige gerichtliche Überprüfungen mit unabhängigen Schiedsrichtern umfassen, um sicherzustellen, dass Ergebnisse objektiv und zuverlässig sind.
Frontex hat mehrfach bewiesen, dass die Organisation nicht reformiert werden kann. Der Widerspruch zwischen dem politischen Mandat Migration zu unterbinden und der menschenrechtlichen Verpflichtung Grundrechte zu schützen, ist einfach zu groß. Wir bei Josoor glauben, dass die einzige Lösung darin besteht, Frontex durch eine echte europäische Küstenwache zu ersetzen, die einen Such- und Rettungsdienst koordiniert. Dies ist der einzige Weg, um Grundrechtsverletzungen an unseren Grenzen zu beenden und eine sichere Überfahrt zu gewährleisten.
In Anbetracht all dessen ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass Frontex selbst nur ein Symptom des europäischen Grenzregimes ist, das auf zunehmender Externalisierung und strafender Abschreckung statt auf Menschenrechten und Grundfreiheiten aufgebaut ist. Damit illegale Pushbacks und andere grobe Menschenrechtsverletzungen an unseren Grenzen ein Ende haben, müssen wir die Wahrnehmung von und den Umgang mit Fluchtbewegung ändern. Wir müssen aufhören, diese als Bedrohung und Sicherheitsproblem darzustellen und sie stattdessen als das sehen, was sie ist: eine für uns alle überlebensnotwendige Funktion der globalen Gesellschaft, die schon immer Teil unserer Menschheitsgeschichte war. Wir müssen aufhören, Menschen auf der Flucht als ein Problem zu behandeln, das es loszuwerden gilt, und stattdessen als Menschen, deren Grundrechte in unseren Gesetzen verankert sind. Mit unserem derzeitigen Grenzregime zerstören wir nicht nur täglich Menschenleben, sondern auch unsere eigenen Demokratien.
Video: “Frontex: EUs Deportation Machine” | Lighthouse Reports
Frontex: Scandals Plunge Europe's Border Agency into Turmoil | DER SPIEGEL
EU refuses to approve Frontex’s budget over human rights concerns | European Union News | Al Jazeera
'Frontex should have no role in asylum procedures' | MEP Birgit Sippel
Frontex Turns a Blind Eye to Greece’s Border Abuses | Human Rights Watch
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Twitter Thread from @StatewatchEU exposing Frontex’s Human Rights Abuses: Statewatch
Testimony Database: Border Violence Monitoring Network
Frontex Involvement in Pushback Operations | Border Violence Monitoring Network
EU: Tens of thousands of people call for Frontex director to step down | Statewatch
Bundesregierung will Push-backs nicht selbst aufklären
EUROPAMAGAZIN: Illegale Pushbacks - Was macht die EU?