Das Verschwindenlassen (auch erzwungenes Verschwinden oder Englisch “enforced disappearances”) von Menschen erscheint vielen von uns als ein weniger relevantes Problem, das unter den chaotischen Umständen von Bürgerkriegen auftritt oder eine Strategie autoritärer Diktatoren ist. Es ist ein Thema, über das wir nicht oft sprechen. In diesem Teil unserer Info-Serie wollen wir hingegen aufzeigen, warum das Verschwindenlassen von Menschen ein äußerst wichtiges Thema ist, über das nicht genug gesprochen wird. Die Unsichtbarkeit der Opfer, die mit dem Verschwindenlassen einhergeht, sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass es nicht passiert. Im Gegenteil, wir müssen noch genauer hinschauen und Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Journalisten*innen auffordern, dies ebenfalls zu tun. Indem wir dem Problem des Verschwindenlassens Aufmerksamkeit schenken und diese kriminellen Handlungen sichtbar machen, können wir dazu beitragen, sie zu verhindern.
Der Begriff “Verschwindenlassen” wird verwendet, wenn Menschen von staatlichen Akteuren - oder mit stillschweigender Billigung des Staates - heimlich aus ihrer Gemeinschaft verschleppt werden. Verwandten und Befreundeten werden Informationen über die Geschehnisse vorenthalten und die gewaltsam Verschwundenen werden auf unbestimmte Zeit inhaftiert, gefoltert oder getötet. Während dies früher eine Strategie autoritärer Regime war, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, ist dies heute ein Phänomen aller Arten von Regierungen, einschließlich der Demokratien. Das gewaltsame Verschwindenlassen verstößt gegen mehrere Menschenrechte, vor allem weil die Opfer "verschwunden" und “vermisst” sind und damit keinen rechtlichen Schutz bekommen. Artikel 2 der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen stellt klar, dass erzwungenes Verschwinden a) ein Freiheitsentzug ist, der durch b) Vertreter des Staates oder durch Personen, die mit Genehmigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, getätigt wird und diese c) nicht zugeben oder verheimlichen, dass die Person verschwundengelassen wurde und wo sie ist; und die schließlich dazu führt, dass d) diese Personen außerhalb des Gesetzes steht.
Der Begriff “Verschwindenlassen” wurde lange vor der internationalen Anerkennung seiner Strafbarkeit geprägt. Ohne eine rechtliche Struktur zum Schutz vor dem Verschwindenlassen von Personen gab es jedoch nur begrenzte Möglichkeiten für eine solide nationale und internationale Überwachung. Das Abtauchen in den "schwarzen Sack" wurde zwar von betroffenen Gemeinschaften weitgehend verurteilt, war aber nach internationalem Recht nicht wirklich illegal. Nach fast 30 Jahren diplomatischer Beratungen innerhalb der Vereinten Nationen änderte sich dies 2006 mit der Etablierung von Rechtsgremien und internationalen Instrumenten, die durch die Annahme der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen (ICPPED) (Resolution A/RES/61/177 der UN-Generalversammlung) festgelegt wurden. Wie der Name schon sagt, legt das Übereinkommen fest, dass alle Vertragsparteien (Staaten) rechtlich zum Schutz vor dem Verschwindenlassen von Personen verpflichtet sind, und stellt das erzwungene Verschwinden von Personen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe. Darüber hinaus bedeutet dies, dass Staaten verpflichtet sind, gegen jede Person oder Einrichtung zu ermitteln, die sich des Verschwindenlassens schuldig gemacht hat, die finanziellen Kosten der Untersuchung zu tragen, Personen, die mit dem Fall in Verbindung stehen (z. B. Familienangehörige), zu informieren und alle diesbezüglichen Informationen zugänglich zu machen. Das Abkommen wurde zwar 2006 verabschiedet, trat aber erst 2010 in Kraft. Griechenland ist Vertragspartei des Abkommens, Bulgarien hat es unterzeichnet aber nicht ratifiziert und die Türkei hat das Abkommen nicht unterzeichnet.
Mehrere europäische Länder waren keine Erstunterzeichner des Übereinkommens, und auch jetzt haben nicht alle Länder der Europäischen Union das Übereinkommen ratifiziert. Das Vereinigte Königreich hat die Konvention überhaupt nicht unterzeichnet. Europa hat jedoch eine lange Geschichte des Verschwindenlassens von Personen. Dazu gehören nicht nur einige der bekanntesten Beispiele in Franco-Spanien und Hitler-Deutschland, sondern auch eine der jüngsten Krisen des gewaltsamen Verschwindenlassens, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach. Berichten zufolge wurden zwischen 1991 und 2001 34 700 Menschen Opfer des Verschwindenlassens, und bis heute sind 14 000 Menschen unauffindbar. Aber das Verschwindenlassen ist auch heute noch ein Problem in Europa, da Menschen im Rahmen von organisiertem Verbrechen und Menschenhandels mit oder ohne Zustimmung staatlicher Akteure verschwinden. Außerdem haben viele Staaten nicht annähernd genug getan, um das Verschwindenlassen in ihrer eigenen Geschichte aufzuklären.
In den letzten Jahren ist das Verschwindenlassen besonders im Kontext der Migration aufgetreten. Da Menschen auf der Flucht besonders gefährdet sind, haben Staaten auf diese Strategie zurückgegriffen, um diese Menschen zu terrorisieren und ihre politischen Ziele zu verfolgen. Der Jahresbericht der UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden von Personen hat in den letzten Jahren auf dieses zunehmende Problem hingewiesen. Diese Entwicklung ist auch in Europa immer häufiger zu beobachten, da die politische Rhetorik einwanderungsfeindliche Stimmungen geschürt hat. Vor allem an den Außengrenzen der Europäischen Union werden Menschen auf der Flucht illegal festgenommen, inhaftiert und / oder abgeschoben. Die Staaten geben nicht zu, dass dies geschieht, und es werden keine formellen, legalen Aufzeichnungen geführt, obwohl diese Handlungen von Staatsbediensteten ausgeführt werden. Es handelt sich also um einen Fall von erzwungenem Verschwindenlassen und damit einem Verbrechen nach internationalem Recht. Den Menschen wird damit der ihnen zustehende Rechtsschutz entzogen, während sie und ihre Angehörigen terrorisiert werden.
Pushbacks liegen vor, wenn Menschen auf der Flucht an Grenzen aufgehalten und gewaltsam in die Länder zurückgeschickt werden, aus denen sie einzureisen versuchten, ohne dass ihnen ihr rechtlicher Anspruch auf Schutz gewährt wird. Dies verstößt gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement), der besagt, dass eine Person nicht in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sie verfolgt oder in dem ihr Leben und ihr Wohlergehen bedroht wären. Pushbacks sind aber auch Fälle von erzwungenem Verschwinden: Menschen auf der Flucht werden illegal festgehalten, ihrer Ausweispapiere beraubt und oft dem Tod überlassen. All dies wird von Staatsbeamt*innen durchgeführt und ist nur möglich, weil es außerhalb des Gesetzes geschieht. Daher ist die Praxis der Pushbacks nicht nur ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot, sondern weist auch alle Merkmale des Verschwindenlassens auf und sollte als solches bezeichnet und verurteilt werden. Pushbacks verstoßen gegen mehrere Artikel der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Verbots von Kollektivausweisungen, die zum Verschwindenlassen von Personen führen. Griechenland hat die UN-Konvention sowie andere völkerrechtliche Verträge ratifiziert und handelt dennoch gegen diese Grundsätze. In einem Bericht des Border Violence Monitoring Networks heißt es dazu: "Daher bestätigen wir, dass die Praxis der illegalen Zurückschiebung und der kollektiven Abschiebung, wie sie vom griechischen Staat durchgeführt wird, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs darstellt".
Die jüngste Zunahme von Pushbacks auf dem Landweg und die andauernde Zurückdrängung auf See seit Anfang 2020 sind eindeutige Verstöße gegen die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen. Für Menschen auf der Flucht führt dies oft zu ihrem eigenen Verschwinden durch die illegalen Mittel der Festnahme und Abschiebung aus Europa in die Türkei. Obwohl die türkischen Wachleute oft nicht direkt für die physischen Pushbacks verantwortlich sind, arbeiten sie zweifellos mit den Verantwortlichen zusammen. Auf türkischer Seite sind Menschen auf der Flucht ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt. Die Türkei, in der es in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen gegeben hat, belastet weiterhin diejenigen, die die derzeitige Regierung äußerlich missbilligen. Diese Fälle reichen vom Verschwindenlassen innerhalb des Landes bis hin zu Entführungen außerhalb des Landes. Für Menschen auf der Flucht äußert sich dies häufig in illegalen, staatlich geförderten Abschiebungen in ihre Heimatländer und in der Inhaftierung ohne Kommunikationsmöglichkeit nach außen. Für Menschen auf der Flucht, die von den türkischen Behörden festgehalten werden und denen das Recht auf Rechtsbeistand verweigert wird, entsteht dadurch ein Vakuum der Unsicherheit, das ein größeres "Potenzial für Refoulement eröffnet, da [Menschen auf der Flucht] eine Rückführung akzeptieren, um eine unbefristete Inhaftierung zu vermeiden." (BVMN).
Da immer mehr Länder die Türkei zu einem "sicheren Drittland" erklären, sind das mögliche Verschwindenlassen, die Isolationshaft und die heimlichen Abschiebungen klare Hinweise auf das verzerrte Verständnis der Politiker*innen von den aktuellen Bedingungen in der Türkei. Da es weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Grenzen zwischen der EU und der Türkei wirkliche Sicherheit gibt, fehlt es den Menschen auf der Flucht an einem angemessenen Schutz, der ihnen nach internationalem Recht zusteht.
Josoor kann Familienangehörige von Menschen, die gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurden, mit rechtlicher Hilfe in der Türkei oder direkt mit Anwält*innen von Partnerorganisationen in Verbindung bringen. Langfristige Unterstützung wird durch die Pflege einer Datenbank mit Informationen über vermisste Personen geleistet. In Griechenland und der Türkei nutzt Josoor die Datenbank in Zusammenarbeit mit seinen Partnern weiterhin für die Suche nach Verschwundenen.
Josoor und andere Partnerorganisationen dokumentieren weiterhin wie gewaltsam Pushbacks und erzwungenes Verschwinden sind. Dadurch werden auch die psychologischen Auswirkungen und physischen Verletzungen deutlich, die besonders auffällig sind, weil diese Praktiken gegen internationales Recht verstoßen und weil sich nur wenige Politiker*innen für diese Menschen einsätzen.
Vor Ort tragen Nichtregierungsorganisationen in der EU und in der Türkei dazu bei, Bewusstsein für das fortgesetzte illegale und gewaltsame Verschwindenlassen von Personen zu schaffen, indem sie Vorkommnisse dokumentieren, Zeug*innenaussagen aufnehmen und weitere Nachforschungen anstellen. Um gegen die Taten repressiver Regime und scheindemokratischer Regierungen vorzugehen, müssen wir die Aufdeckung dieser illegalen, versteckten Praktiken fordern. Wenn du über juristisches Fachwissen verfügst, bieten deine Dienste den Organisationen an, die den Betroffenen helfen (siehe unten). Für alle anderen gilt: informiert euch über die aktuelle Situation, auch in deinem Land. Dann organisieren und handeln.
Justice Beyond Borders | Global Action Legal Network
Trial International (TRIAL) - Enforced Disappearance
“I didn't Exist” Syrian Asylum-Seeker’s Case Reframes Migrant Abuses as Enforced Disappearances
BVMN Extended Report the 19th Session for the Committee on Enforced Disappearances
United Nations: International Day of the Victims of Enforced Disappearances, 30 August
Amnesty International: Enforced Disappearances
Disappeared migrants and refugees: How the ICPPED can help in their search and protection
Protection of migrants from enforced disappearance: A human rights perspective
Das Verschwindenlassen (auch erzwungenes Verschwinden oder Englisch “enforced disappearances”) von Menschen erscheint vielen von uns als ein weniger relevantes Problem, das unter den chaotischen Umständen von Bürgerkriegen auftritt oder eine Strategie autoritärer Diktatoren ist. Es ist ein Thema, über das wir nicht oft sprechen. In diesem Teil unserer Info-Serie wollen wir hingegen aufzeigen, warum das Verschwindenlassen von Menschen ein äußerst wichtiges Thema ist, über das nicht genug gesprochen wird. Die Unsichtbarkeit der Opfer, die mit dem Verschwindenlassen einhergeht, sollte uns nicht zu der Annahme verleiten, dass es nicht passiert. Im Gegenteil, wir müssen noch genauer hinschauen und Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und Journalisten*innen auffordern, dies ebenfalls zu tun. Indem wir dem Problem des Verschwindenlassens Aufmerksamkeit schenken und diese kriminellen Handlungen sichtbar machen, können wir dazu beitragen, sie zu verhindern.
Der Begriff “Verschwindenlassen” wird verwendet, wenn Menschen von staatlichen Akteuren - oder mit stillschweigender Billigung des Staates - heimlich aus ihrer Gemeinschaft verschleppt werden. Verwandten und Befreundeten werden Informationen über die Geschehnisse vorenthalten und die gewaltsam Verschwundenen werden auf unbestimmte Zeit inhaftiert, gefoltert oder getötet. Während dies früher eine Strategie autoritärer Regime war, um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen, ist dies heute ein Phänomen aller Arten von Regierungen, einschließlich der Demokratien. Das gewaltsame Verschwindenlassen verstößt gegen mehrere Menschenrechte, vor allem weil die Opfer "verschwunden" und “vermisst” sind und damit keinen rechtlichen Schutz bekommen. Artikel 2 der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen stellt klar, dass erzwungenes Verschwinden a) ein Freiheitsentzug ist, der durch b) Vertreter des Staates oder durch Personen, die mit Genehmigung, Unterstützung oder Duldung des Staates handeln, getätigt wird und diese c) nicht zugeben oder verheimlichen, dass die Person verschwundengelassen wurde und wo sie ist; und die schließlich dazu führt, dass d) diese Personen außerhalb des Gesetzes steht.
Der Begriff “Verschwindenlassen” wurde lange vor der internationalen Anerkennung seiner Strafbarkeit geprägt. Ohne eine rechtliche Struktur zum Schutz vor dem Verschwindenlassen von Personen gab es jedoch nur begrenzte Möglichkeiten für eine solide nationale und internationale Überwachung. Das Abtauchen in den "schwarzen Sack" wurde zwar von betroffenen Gemeinschaften weitgehend verurteilt, war aber nach internationalem Recht nicht wirklich illegal. Nach fast 30 Jahren diplomatischer Beratungen innerhalb der Vereinten Nationen änderte sich dies 2006 mit der Etablierung von Rechtsgremien und internationalen Instrumenten, die durch die Annahme der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen (ICPPED) (Resolution A/RES/61/177 der UN-Generalversammlung) festgelegt wurden. Wie der Name schon sagt, legt das Übereinkommen fest, dass alle Vertragsparteien (Staaten) rechtlich zum Schutz vor dem Verschwindenlassen von Personen verpflichtet sind, und stellt das erzwungene Verschwinden von Personen als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe. Darüber hinaus bedeutet dies, dass Staaten verpflichtet sind, gegen jede Person oder Einrichtung zu ermitteln, die sich des Verschwindenlassens schuldig gemacht hat, die finanziellen Kosten der Untersuchung zu tragen, Personen, die mit dem Fall in Verbindung stehen (z. B. Familienangehörige), zu informieren und alle diesbezüglichen Informationen zugänglich zu machen. Das Abkommen wurde zwar 2006 verabschiedet, trat aber erst 2010 in Kraft. Griechenland ist Vertragspartei des Abkommens, Bulgarien hat es unterzeichnet aber nicht ratifiziert und die Türkei hat das Abkommen nicht unterzeichnet.
Mehrere europäische Länder waren keine Erstunterzeichner des Übereinkommens, und auch jetzt haben nicht alle Länder der Europäischen Union das Übereinkommen ratifiziert. Das Vereinigte Königreich hat die Konvention überhaupt nicht unterzeichnet. Europa hat jedoch eine lange Geschichte des Verschwindenlassens von Personen. Dazu gehören nicht nur einige der bekanntesten Beispiele in Franco-Spanien und Hitler-Deutschland, sondern auch eine der jüngsten Krisen des gewaltsamen Verschwindenlassens, als der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ausbrach. Berichten zufolge wurden zwischen 1991 und 2001 34 700 Menschen Opfer des Verschwindenlassens, und bis heute sind 14 000 Menschen unauffindbar. Aber das Verschwindenlassen ist auch heute noch ein Problem in Europa, da Menschen im Rahmen von organisiertem Verbrechen und Menschenhandels mit oder ohne Zustimmung staatlicher Akteure verschwinden. Außerdem haben viele Staaten nicht annähernd genug getan, um das Verschwindenlassen in ihrer eigenen Geschichte aufzuklären.
In den letzten Jahren ist das Verschwindenlassen besonders im Kontext der Migration aufgetreten. Da Menschen auf der Flucht besonders gefährdet sind, haben Staaten auf diese Strategie zurückgegriffen, um diese Menschen zu terrorisieren und ihre politischen Ziele zu verfolgen. Der Jahresbericht der UN-Arbeitsgruppe für erzwungenes oder unfreiwilliges Verschwinden von Personen hat in den letzten Jahren auf dieses zunehmende Problem hingewiesen. Diese Entwicklung ist auch in Europa immer häufiger zu beobachten, da die politische Rhetorik einwanderungsfeindliche Stimmungen geschürt hat. Vor allem an den Außengrenzen der Europäischen Union werden Menschen auf der Flucht illegal festgenommen, inhaftiert und / oder abgeschoben. Die Staaten geben nicht zu, dass dies geschieht, und es werden keine formellen, legalen Aufzeichnungen geführt, obwohl diese Handlungen von Staatsbediensteten ausgeführt werden. Es handelt sich also um einen Fall von erzwungenem Verschwindenlassen und damit einem Verbrechen nach internationalem Recht. Den Menschen wird damit der ihnen zustehende Rechtsschutz entzogen, während sie und ihre Angehörigen terrorisiert werden.
Pushbacks liegen vor, wenn Menschen auf der Flucht an Grenzen aufgehalten und gewaltsam in die Länder zurückgeschickt werden, aus denen sie einzureisen versuchten, ohne dass ihnen ihr rechtlicher Anspruch auf Schutz gewährt wird. Dies verstößt gegen den völkerrechtlichen Grundsatz der Nichtzurückweisung (non-refoulement), der besagt, dass eine Person nicht in ein Land zurückgeschickt werden darf, in dem sie verfolgt oder in dem ihr Leben und ihr Wohlergehen bedroht wären. Pushbacks sind aber auch Fälle von erzwungenem Verschwinden: Menschen auf der Flucht werden illegal festgehalten, ihrer Ausweispapiere beraubt und oft dem Tod überlassen. All dies wird von Staatsbeamt*innen durchgeführt und ist nur möglich, weil es außerhalb des Gesetzes geschieht. Daher ist die Praxis der Pushbacks nicht nur ein Verstoß gegen das Refoulement-Verbot, sondern weist auch alle Merkmale des Verschwindenlassens auf und sollte als solches bezeichnet und verurteilt werden. Pushbacks verstoßen gegen mehrere Artikel der UN-Konvention gegen Verschwindenlassen, einschließlich des Grundsatzes der Nichtzurückweisung und des Verbots von Kollektivausweisungen, die zum Verschwindenlassen von Personen führen. Griechenland hat die UN-Konvention sowie andere völkerrechtliche Verträge ratifiziert und handelt dennoch gegen diese Grundsätze. In einem Bericht des Border Violence Monitoring Networks heißt es dazu: "Daher bestätigen wir, dass die Praxis der illegalen Zurückschiebung und der kollektiven Abschiebung, wie sie vom griechischen Staat durchgeführt wird, ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Sinne des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs darstellt".
Die jüngste Zunahme von Pushbacks auf dem Landweg und die andauernde Zurückdrängung auf See seit Anfang 2020 sind eindeutige Verstöße gegen die UN-Konvention gegen Verschwindenlassen. Für Menschen auf der Flucht führt dies oft zu ihrem eigenen Verschwinden durch die illegalen Mittel der Festnahme und Abschiebung aus Europa in die Türkei. Obwohl die türkischen Wachleute oft nicht direkt für die physischen Pushbacks verantwortlich sind, arbeiten sie zweifellos mit den Verantwortlichen zusammen. Auf türkischer Seite sind Menschen auf der Flucht ähnlichen Bedrohungen ausgesetzt. Die Türkei, in der es in den 1980er und 1990er Jahren zahlreiche Fälle von Verschwindenlassen gegeben hat, belastet weiterhin diejenigen, die die derzeitige Regierung äußerlich missbilligen. Diese Fälle reichen vom Verschwindenlassen innerhalb des Landes bis hin zu Entführungen außerhalb des Landes. Für Menschen auf der Flucht äußert sich dies häufig in illegalen, staatlich geförderten Abschiebungen in ihre Heimatländer und in der Inhaftierung ohne Kommunikationsmöglichkeit nach außen. Für Menschen auf der Flucht, die von den türkischen Behörden festgehalten werden und denen das Recht auf Rechtsbeistand verweigert wird, entsteht dadurch ein Vakuum der Unsicherheit, das ein größeres "Potenzial für Refoulement eröffnet, da [Menschen auf der Flucht] eine Rückführung akzeptieren, um eine unbefristete Inhaftierung zu vermeiden." (BVMN).
Da immer mehr Länder die Türkei zu einem "sicheren Drittland" erklären, sind das mögliche Verschwindenlassen, die Isolationshaft und die heimlichen Abschiebungen klare Hinweise auf das verzerrte Verständnis der Politiker*innen von den aktuellen Bedingungen in der Türkei. Da es weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Grenzen zwischen der EU und der Türkei wirkliche Sicherheit gibt, fehlt es den Menschen auf der Flucht an einem angemessenen Schutz, der ihnen nach internationalem Recht zusteht.
Josoor kann Familienangehörige von Menschen, die gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurden, mit rechtlicher Hilfe in der Türkei oder direkt mit Anwält*innen von Partnerorganisationen in Verbindung bringen. Langfristige Unterstützung wird durch die Pflege einer Datenbank mit Informationen über vermisste Personen geleistet. In Griechenland und der Türkei nutzt Josoor die Datenbank in Zusammenarbeit mit seinen Partnern weiterhin für die Suche nach Verschwundenen.
Josoor und andere Partnerorganisationen dokumentieren weiterhin wie gewaltsam Pushbacks und erzwungenes Verschwinden sind. Dadurch werden auch die psychologischen Auswirkungen und physischen Verletzungen deutlich, die besonders auffällig sind, weil diese Praktiken gegen internationales Recht verstoßen und weil sich nur wenige Politiker*innen für diese Menschen einsätzen.
Vor Ort tragen Nichtregierungsorganisationen in der EU und in der Türkei dazu bei, Bewusstsein für das fortgesetzte illegale und gewaltsame Verschwindenlassen von Personen zu schaffen, indem sie Vorkommnisse dokumentieren, Zeug*innenaussagen aufnehmen und weitere Nachforschungen anstellen. Um gegen die Taten repressiver Regime und scheindemokratischer Regierungen vorzugehen, müssen wir die Aufdeckung dieser illegalen, versteckten Praktiken fordern. Wenn du über juristisches Fachwissen verfügst, bieten deine Dienste den Organisationen an, die den Betroffenen helfen (siehe unten). Für alle anderen gilt: informiert euch über die aktuelle Situation, auch in deinem Land. Dann organisieren und handeln.
Justice Beyond Borders | Global Action Legal Network
Trial International (TRIAL) - Enforced Disappearance
“I didn't Exist” Syrian Asylum-Seeker’s Case Reframes Migrant Abuses as Enforced Disappearances
BVMN Extended Report the 19th Session for the Committee on Enforced Disappearances
United Nations: International Day of the Victims of Enforced Disappearances, 30 August
Amnesty International: Enforced Disappearances
Disappeared migrants and refugees: How the ICPPED can help in their search and protection
Protection of migrants from enforced disappearance: A human rights perspective