Europas Krieg gegen Migration hat ein neues Level erreicht
Ein Blog zum Internationalen Migrationstag 2021
In diesem Blog treten wir einen Schritt zurück und schauen auf all die schrecklichen Dinge, die im letzten Jahr passiert sind. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie die Europäische Union - eine Institution, die sich ihrer Werte rühmt - in eine neue Phase des Krieges gegen die Migration eingetreten ist.
Die Nutzung von Migrationsbewegungen (besser bekannt als "Migrationsströme") als Mittel der Aggression oder Einschüchterung ist weder neu noch selten. Aber das Jahr 2021 war ein verdammt gutes Jahr für die Beschleunigung des Krieges der Europäischen Union gegen die Migration. Dazu gehört die Fortsetzung der bewaffneten Abwehr der Migration durch die Überführung von Menschen auf der Flucht nach Ceuta in Spanien ebenso wie die aktuelle Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze. Dazu gehört auch da berüchtigte Frontex (die so genannte Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache), dessen Zusammenarbeit mit dem libyschen Regime weiter aufgedeckt wurde, deren Beamt*innen teilweise bewaffnet sind und die Drohnen beschafft, um hochtechnisierte, militarisierte EU-Grenzen zu schaffen. Am ungeheuerlichsten ist aber, dass Pushback von 12 EU-Staaten grundsätzlich zur Legalisierung aufgerufen wurde, weil die Außengrenzen "mit einem Höchstmaß an Sicherheit geschützt werden müssen". Das ist ein regelrechter Krieg gegen die Freizügigkeit und gegen Menschen, die unterwegs sind, egal ob sie Asylbewerber*innen, Migrant*innen oder Geflüchtete sind.
In diesem Blog treten wir einen Schritt zurück und schauen auf all die schrecklichen Dinge, die im letzten Jahr passiert sind. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie die Europäische Union - eine Institution, die sich ihrer Werte rühmt - in eine neue Phase des Krieges gegen die Migration eingetreten ist.
Spannungen an der Grenze
Ein besonders krasses Beispiel wie Migration als Waffe benutzt wird ereignete sich Anfang Mai dieses Jahres. Die marokkanischen Behörden ermutigten Menschen auf der Flucht - insgesamt etwa 12.000 Menschen - in das kleine spanische Gebiet Ceuta in Nordafrika einzureisen. Die marokkanische Regierung versucht, die internationale Gemeinschaft zu zwingen, ihren Anspruch auf das Gebiet der Westsahara anzuerkennen. Nachdem Spanien dem Unabhängigkeitsbefürworter Brahim Ghali medizinische Hilfe geleistet hatte, reagierte Marokko mit dem "Durchwinken" von Menschen, die an der Grenze zu Ceuta in Spanien unterwegs waren. Wenige Stunden später sagte Spanien Marokko 30 Millionen Euro für die Grenzsicherung zu. Seit 2007 hat die EU 13 Milliarden Euro an Geldern als Gegenleistung für strenge Grenzkontrollen bereitgestellt. Wann immer Marokko politischen Druck auf die EU oder speziell auf Spanien ausüben will, muss es nur Menschen auf der Flucht an die Außengrenzen der EU bringen. Die EU wird erpresst, weil sie nicht gewillt ist, eine Politik der Solidarität zu betreiben und nach den internationalen Menschenrechten zu handeln.
Dieselbe Taktik wurde bereits von der türkischen Regierung unter Präsident Erdogan angewandt. Aber erst kürzlich hat die autoritäre Regierung von Belarus diese bewährte Strategie angewandt, um die EU unter Druck zu setzen. Schätzungsweise 4.000 Menschen sitzen in der nun unzugänglichen Zone an der polnischen Grenze zu Weißrussland fest, und es gibt schätzungsweise 10.000-20.000 Menschen in Weißrussland, die versuchen, nach Polen zu gelangen. Diese Menschen sitzen dort seit Monaten fest, gezwungen, in der Kälte zu schlafen, ohne Unterkunft und Nahrung, weil sie von der belarussischen Regierung ermutigt wurden, die Reise nach Polen anzutreten. Eine Vielzahl von Menschen ist gestorben, darunter auch ein einjähriges syrisches Kind. Das ist absolut unmenschlich, und auch hier sind die Beweggründe politisch: Weißrussland möchte, dass die EU die Sanktionen aufhebt, die nach der Niederschlagung der regierungsfeindlichen Proteste durch Präsident Lukaschenko verhängt worden waren.
Doch auch die polnische Seite des Grenzkonflikts ist politisch motiviert. Polens rechtsextreme Regierung will ihre einwanderungsfeindliche Politik durchsetzen. Der bisher unheimlichste Teil dieser Performance fand am 6. Dezember statt, als ein Konzert veranstaltet wurde, das vom polnischen Verteidigungsministerium organisiert wurde. Es fand an der EU-Außengrenze zu Weißrussland statt, um "Unterstützung für die Truppen zu zeigen, die die Ostgrenze verteidigen". Die Reaktionen auf die Veranstaltung reichten von absoluter Abscheu bis hin zu uneingeschränkter Unterstützung.
Menschen auf der Flucht werden aber nicht nur zu Spielbällen politischer Interessen, wenn autoritäre Regime Druck auf die Europäische Union ausüben. Wie jedes andere Mitglied des Border Violence Monitoring Network (BVMN) haben wir aus erster Hand erfahren, dass gewaltsame Pushbacks an den Außengrenzen der Europäischen Union zur Norm geworden sind. Sie sind im letzten Jahr nicht nur häufiger geworden, sondern auch gewalttätiger und die Taktiken sind vielfältiger geworden.
Bei Josoor überwachen wir die griechisch-türkische und die bulgarisch-türkische Grenze. Uns liegen zahlreiche Berichte über Pushback-Vorfälle vor, bei denen Gruppen auf Inseln und Inselchen gedrängt und dort ohne Nahrung und Hilfe zurückgelassen wurden. Unter den zurückgedrängten Gruppen befanden sich auch sehr viel häufiger Frauen und Kinder. Das Ausmaß der Gewalt hat zugenommen: Fast jedes einzelne Pushback-Zeugnis, das wir im Jahr 2021 aufgenommen haben, beinhaltet eine oder mehrere Formen von Gewalt, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und/oder Folter gleichkommen. Dies geschieht mit ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Da sich die einwanderungsfeindliche Politik in der Innenpolitik als vorteilhaft erweist, wird der Krieg gegen die Migration weiter ausgeweitet.
Die Frontex-Saga
Frontex war im Jahr 2021 ein ständiges Diskussionsthema. Die Agentur hat 26 Mitgliedsländer und ist derzeit in mindestens 22 Ländern sowohl an den Land- als auch an den Seegrenzen tätig und präsent. Wie in den vergangenen Jahren haben Josoor und seine Partner*innen im BVMN Berichte über Pushbacks dokumentiert, in denen sowohl die nationalen Behörden in den Einsatzgebieten von Frontex als auch die Frontex-Beamt*innen selbst beschuldigt werden, an Pushbacks beteiligt zu sein. In den Zeugenaussagen wird "die Flagge der Europäischen Union" auf einer "hellblauen Armbinde" an der Uniform der Beamt*innen erwähnt. Wir haben bereits im April 2021 ein Update zur "Frontex-Saga" verfasst, in dem wir erklären, warum Frontex höchst problematisch ist, und in dem wir weitere Details erläutern.
In den letzten Monaten wurde die fortgesetzte Zusammenarbeit von Frontex mit Libyen unter die Lupe genommen, obwohl Frontex jegliche Zusammenarbeit mit dem Staat leugnet. Europäische Journalist*innen und Nichtregierungsorganisationen haben eine wachsende Zahl von Beweisen gesammelt, die das Gegenteil nahelegen. Dokumente, die im Oktober auf Antrag der europäischen Transparenzgruppe FragDenStaat veröffentlicht wurden, zeigen, dass Frontex sogar die Standorte von Schlauchbooten direkt an die sogenannte libysche Küstenwache übermittelt. Darüber hinaus belegen Whatsapp-Austausche ihre Zusammenarbeit und Kooperation miteinander.
Trotz alledem wurde diskutiert, die Frontex-Beamt*innen bis zum Sommer 2021 mit Waffen auszustatten. Dazu kam es bis zum Sommer nicht, da das Budget von Frontex durch das Europäische Parlament blockiert wurde. Kürzlich wurde jedoch bekannt, dass Frontex einen Waffenhersteller in Österreich ausgewählt hat, um sich mit Waffen auszustatten. Am 9. Dezember dieses Monats gab Frontex bekannt, dass der Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, mit dem litauischen Innenminister Agnė Bilotaitė eine Vereinbarung über den Einsatz von Frontex-Beamt*innen mit von Litauen bereitgestellten Dienstwaffen unterzeichnet hat. Im Jahr 2022 werden die Frontex-Beamt*innen also mit Waffen ausgerüstet sein - eine beängstigende Ergänzung im Kampf der EU gegen Migration und Externalisierung.
Hochwertige Technik
Im Jahr 2021 hat sich der Schwerpunkt der Investitionen in hochwertige Technologie an den Grenzen weiter verschoben. Der Zaun an der griechisch-türkischen Grenze wurde nach dem Fall von Kabul im August um 40 km verlängert und mit Schallkanonen und Drohnen zur Überwachung des Grenzgebiets ausgestattet. Die polnische Grenze zu Weißrussland wird zur neuesten technologischen Frontlinie, da Polen eine 350 Millionen Euro teure Mauer entlang der Grenze genehmigt hat, die mit modernen Kameras und Bewegungsmeldern ausgestattet ist. Die beiden Guardian-Journalisten Kaamil Ahmed und Lorenzo Tondo haben eine Übersicht über die zahlreichen Spezialtechnologien der Europäischen Union zur Überwachung und Abschreckung von Menschen auf der Flucht erstellt (siehe unten). Sie stellen fest, dass die EU eine zentrale Rolle beim Ausbau ihrer Grenztechnologien in vielen verschiedenen Mitgliedstaaten gespielt hat. Zu den neuen Instrumenten, die von der EU eingesetzt werden, gehören Drohnen, Schallkanonen und Geräte, die Menschen anhand ihrer Körperwärme oder ihres Herzschlags erkennen.
Doch dies ist Teil eines langfristigen Trends: Seit 2018 haben Frontex und die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) Militärdrohnen von Elbit und Unmanned Aerial Vehicle (IAI/UAV) unter Vertrag genommen. Elbit Systems, ein israelisches Rüstungsunternehmen, entwickelt seine Drohnen gemeinsam mit dem israelischen Militär und bewirbt seine Technologie als "felderprobt" - an Palästinenser*innen. Im Oktober 2020 unterzeichnete die EU zwei neue Verträge über die Lieferung von unbemannten Drohnen im Wert von jeweils 50 Millionen Euro. Diese Verträge bringen die Militarisierung der europäischen Grenzen auf die nächste Stufe und dienen keinem anderen Zweck, als Menschen, die Schutz und eine sichere Zukunft suchen, daran zu hindern, Europa zu erreichen. Im Jahr 2018 prognostizierte die EU, dass der europäische Sicherheitsmarkt bis 2020 auf 128 Mrd. EUR anwachsen wird. In diesem Jahr deckte ein Team von investigativen Journalist*innen enge Verbindungen zwischen Frontex und der Waffenindustrie auf. Nutznießer sind Waffen- und Technologieunternehmen, die die EU und die Mitgliedsstaaten massiv umwerben.
Legalisierung von Pushbacks
2021 wurde in einigen Staaten die Legalisierung von Pushbacks in Angriff genommen. Ungarn hat Pushbacks bereits 2015 erfolgreich legalisiert, d. h. die ungarische Polizei darf nun Asylbewerber*innen, die auf ungarischem Gebiet in einem Umkreis von 8 km von der serbisch-ungarischen oder der kroatisch-ungarischen Grenze aufgegriffen werden, automatisch zurückschieben.
Am 7. Oktober dieses Jahres erklärten 12 EU-Mitgliedstaaten, dass alle Außengrenzen "mit einem Höchstmaß an Sicherheit geschützt werden müssen". Ihr Vorschlag beinhaltete die Idee, "den bestehenden Rechtsrahmen an die neuen Realitäten anzupassen". Im Wesentlichen forderten sie die Legalisierung von Pushbacks, die Finanzierung von Grenzmauern durch die EU und Maßnahmen, um auf einen "hybriden Angriff zu reagieren, der durch einen künstlich erzeugten Massenzustrom von irregulären Migranten gekennzeichnet ist". Am 14. Oktober verabschiedete Polen ein Gesetz zur Legalisierung von Pushbacks als Reaktion auf die anhaltende und sich verschlechternde Situation an der polnisch-belarussischen Grenze.
Am 21. Oktober veröffentlichte der Menschenrechtskommissar des Europarats eine Erklärung, in der er die EU-Mitgliedstaaten aufforderte, die laufenden Pushbacks zu stoppen und jeden Versuch, diese illegale Praxis zu legalisieren, unverzüglich zu beenden. Der Europarat hat sich zunehmend besorgt über die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen auf der Flucht geäußert. Dies gilt insbesondere für die Verweigerung des Zugangs zu Asyl und für Rückführungen ohne individuelle Schutzmaßnahmen, die häufig mit brutaler Gewalt oder der Gefährdung von Menschenleben einhergehen. Das Problem besteht also nicht nur darin, dass es eine wachsende Bewegung gibt, die Pushbacks legalisieren will, sondern dass sie in vielen EU-Mitgliedstaaten bereits zur Norm geworden sind.
In einem kürzlich ergangenen Urteil gegen eine unserer Partnerorganisationen im BVMN, "Are You Syrious?", wurde deren ehrenamtlicher Mitarbeiter Dragan Umičević vom Obersten Strafgericht in Zagreb für schuldig befunden. Ihm wurde vorgeworfen, die Familie der kleinen Madina, eines sechsjährigen Mädchens, das bei einer illegalen Rückführung aus Kroatien starb, bei der illegalen Überfahrt unterstützt zu haben. In dem Urteil wurde "Are You Syrious?" zur Zahlung einer hohen Geldstrafe verurteilt. Obwohl das Gericht zugab, dass sich die Familie von Madina bereits in Kroatien befand, wertete es die Aktionen von Are You Syrious?" als Unterstützung eines illegalen Grenzübertritts. Dies stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar, denn es bedeutet, dass jeder wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt angeklagt werden kann, unabhängig davon, wo er sich befindet. Darüber hinaus schrieb das Gericht, dass Dragan Umičević wusste, dass "das Asyl der Familie bereits zweimal abgelehnt wurde", was bedeutet, dass die Gerichte einen Pushback als Asylverfahren interpretieren.
Wie wird das Jahr 2022 aussehen? - Hybride Kriegsführung
Wir wissen nicht, wie dieser Krieg gegen die Migration weitergehen wird. Wir sind keine Expert*innen für Migration und EU-Politik. Wenn wir uns jedoch die Trends der letzten Jahre ansehen, sehen wir voraus, dass Gewalt und Leid nur noch schlimmer werden. Konversative, einwanderungsfeindliche Kräfte werden an Einfluss gewinnen und jene Teile der EU erpressen, die noch versuchen könnten, nach einer wertebasierten Politik zu handeln. Es wird Geld in die Grenzen investiert, und ein ganzer grenzindustrieller Komplex profitiert von der zunehmenden einwanderungsfeindlichen Stimmung. Der Aktivismus der Zivilgesellschaft konzentriert sich vor allem auf die Rettung von Menschenleben, da Organisationen wie Josoor oder Search and Rescue dort einspringen, wo die Staaten ihren Pflichten nicht nachkommen. Und mit dieser Art von "Einmischung" wird die Kriminalisierung der Solidarität weiter voranschreiten.
Das Problem ist, dass sich die Europäische Union im Krieg befindet. Staaten auf der ganzen Welt versuchen, sich durch die so genannte "hybride Kriegsführung" strategische Vorteile zu verschaffen. Dabei handelt es sich um das Konzept, Schwachstellen des Gegners auszunutzen, um ihn anzugreifen, ohne unbedingt physische Gewalt anzuwenden. In Verbindung mit der physischen Gewalt an den Außengrenzen der EU und dem Erstarken der extremen Rechten in ganz Europa zeichnet sich eine düstere Zukunft für die kommenden Jahre ab. Die Schwachstelle der EU ist, dass sie ihren selbsternannten Standards nicht gerecht wird, indem sie eine unmenschliche, restriktive Migrationspolitik vertritt.
Es hat sich selbst in eine Lage gebracht, in der es ständig durch Aktionen, wie wir sie an der polnisch-weißrussischen Grenze erleben, erpresst werden kann. Außerdem werden Bürger*innen, die noch an die Menschenrechte glauben, in absehbarer Zeit keine offene Gewalt gegen Menschen auf der Flucht zulassen. Daher wird es die Staaten an seinen Grenzen immer dafür bezahlen, sie - und die ihnen angetane Gewalt - aus dem Blickfeld zu halten.
Aber das ist keine nachhaltige Lösung. Wenn Europa nicht den Anspruch aufgeben will, eine Ansammlung von Staaten zu sein, die auf humanitären Prinzipien und Werten beruht, kann es nur eine Lösung geben. Europa muss sich der Realität der Migration stellen, den eskalierenden Krieg gegen die Migration beenden und endlich erkennen, dass die Unterstützung von Menschen auf der Flucht kein Risiko, sondern eine Chance darstellt - und einfach das Richtige ist.
Einleitung
Die Nutzung von Migrationsbewegungen (besser bekannt als "Migrationsströme") als Mittel der Aggression oder Einschüchterung ist weder neu noch selten. Aber das Jahr 2021 war ein verdammt gutes Jahr für die Beschleunigung des Krieges der Europäischen Union gegen die Migration. Dazu gehört die Fortsetzung der bewaffneten Abwehr der Migration durch die Überführung von Menschen auf der Flucht nach Ceuta in Spanien ebenso wie die aktuelle Situation an der polnisch-weißrussischen Grenze. Dazu gehört auch da berüchtigte Frontex (die so genannte Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache), dessen Zusammenarbeit mit dem libyschen Regime weiter aufgedeckt wurde, deren Beamt*innen teilweise bewaffnet sind und die Drohnen beschafft, um hochtechnisierte, militarisierte EU-Grenzen zu schaffen. Am ungeheuerlichsten ist aber, dass Pushback von 12 EU-Staaten grundsätzlich zur Legalisierung aufgerufen wurde, weil die Außengrenzen "mit einem Höchstmaß an Sicherheit geschützt werden müssen". Das ist ein regelrechter Krieg gegen die Freizügigkeit und gegen Menschen, die unterwegs sind, egal ob sie Asylbewerber*innen, Migrant*innen oder Geflüchtete sind.
In diesem Blog treten wir einen Schritt zurück und schauen auf all die schrecklichen Dinge, die im letzten Jahr passiert sind. Wir versuchen nachzuvollziehen, wie die Europäische Union - eine Institution, die sich ihrer Werte rühmt - in eine neue Phase des Krieges gegen die Migration eingetreten ist.
Spannungen an der Grenze
Ein besonders krasses Beispiel wie Migration als Waffe benutzt wird ereignete sich Anfang Mai dieses Jahres. Die marokkanischen Behörden ermutigten Menschen auf der Flucht - insgesamt etwa 12.000 Menschen - in das kleine spanische Gebiet Ceuta in Nordafrika einzureisen. Die marokkanische Regierung versucht, die internationale Gemeinschaft zu zwingen, ihren Anspruch auf das Gebiet der Westsahara anzuerkennen. Nachdem Spanien dem Unabhängigkeitsbefürworter Brahim Ghali medizinische Hilfe geleistet hatte, reagierte Marokko mit dem "Durchwinken" von Menschen, die an der Grenze zu Ceuta in Spanien unterwegs waren. Wenige Stunden später sagte Spanien Marokko 30 Millionen Euro für die Grenzsicherung zu. Seit 2007 hat die EU 13 Milliarden Euro an Geldern als Gegenleistung für strenge Grenzkontrollen bereitgestellt. Wann immer Marokko politischen Druck auf die EU oder speziell auf Spanien ausüben will, muss es nur Menschen auf der Flucht an die Außengrenzen der EU bringen. Die EU wird erpresst, weil sie nicht gewillt ist, eine Politik der Solidarität zu betreiben und nach den internationalen Menschenrechten zu handeln.
Dieselbe Taktik wurde bereits von der türkischen Regierung unter Präsident Erdogan angewandt. Aber erst kürzlich hat die autoritäre Regierung von Belarus diese bewährte Strategie angewandt, um die EU unter Druck zu setzen. Schätzungsweise 4.000 Menschen sitzen in der nun unzugänglichen Zone an der polnischen Grenze zu Weißrussland fest, und es gibt schätzungsweise 10.000-20.000 Menschen in Weißrussland, die versuchen, nach Polen zu gelangen. Diese Menschen sitzen dort seit Monaten fest, gezwungen, in der Kälte zu schlafen, ohne Unterkunft und Nahrung, weil sie von der belarussischen Regierung ermutigt wurden, die Reise nach Polen anzutreten. Eine Vielzahl von Menschen ist gestorben, darunter auch ein einjähriges syrisches Kind. Das ist absolut unmenschlich, und auch hier sind die Beweggründe politisch: Weißrussland möchte, dass die EU die Sanktionen aufhebt, die nach der Niederschlagung der regierungsfeindlichen Proteste durch Präsident Lukaschenko verhängt worden waren.
Doch auch die polnische Seite des Grenzkonflikts ist politisch motiviert. Polens rechtsextreme Regierung will ihre einwanderungsfeindliche Politik durchsetzen. Der bisher unheimlichste Teil dieser Performance fand am 6. Dezember statt, als ein Konzert veranstaltet wurde, das vom polnischen Verteidigungsministerium organisiert wurde. Es fand an der EU-Außengrenze zu Weißrussland statt, um "Unterstützung für die Truppen zu zeigen, die die Ostgrenze verteidigen". Die Reaktionen auf die Veranstaltung reichten von absoluter Abscheu bis hin zu uneingeschränkter Unterstützung.
Menschen auf der Flucht werden aber nicht nur zu Spielbällen politischer Interessen, wenn autoritäre Regime Druck auf die Europäische Union ausüben. Wie jedes andere Mitglied des Border Violence Monitoring Network (BVMN) haben wir aus erster Hand erfahren, dass gewaltsame Pushbacks an den Außengrenzen der Europäischen Union zur Norm geworden sind. Sie sind im letzten Jahr nicht nur häufiger geworden, sondern auch gewalttätiger und die Taktiken sind vielfältiger geworden.
Bei Josoor überwachen wir die griechisch-türkische und die bulgarisch-türkische Grenze. Uns liegen zahlreiche Berichte über Pushback-Vorfälle vor, bei denen Gruppen auf Inseln und Inselchen gedrängt und dort ohne Nahrung und Hilfe zurückgelassen wurden. Unter den zurückgedrängten Gruppen befanden sich auch sehr viel häufiger Frauen und Kinder. Das Ausmaß der Gewalt hat zugenommen: Fast jedes einzelne Pushback-Zeugnis, das wir im Jahr 2021 aufgenommen haben, beinhaltet eine oder mehrere Formen von Gewalt, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung und/oder Folter gleichkommen. Dies geschieht mit ausdrücklicher oder stillschweigender Billigung der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten. Da sich die einwanderungsfeindliche Politik in der Innenpolitik als vorteilhaft erweist, wird der Krieg gegen die Migration weiter ausgeweitet.
Die Frontex-Saga
Frontex war im Jahr 2021 ein ständiges Diskussionsthema. Die Agentur hat 26 Mitgliedsländer und ist derzeit in mindestens 22 Ländern sowohl an den Land- als auch an den Seegrenzen tätig und präsent. Wie in den vergangenen Jahren haben Josoor und seine Partner*innen im BVMN Berichte über Pushbacks dokumentiert, in denen sowohl die nationalen Behörden in den Einsatzgebieten von Frontex als auch die Frontex-Beamt*innen selbst beschuldigt werden, an Pushbacks beteiligt zu sein. In den Zeugenaussagen wird "die Flagge der Europäischen Union" auf einer "hellblauen Armbinde" an der Uniform der Beamt*innen erwähnt. Wir haben bereits im April 2021 ein Update zur "Frontex-Saga" verfasst, in dem wir erklären, warum Frontex höchst problematisch ist, und in dem wir weitere Details erläutern.
In den letzten Monaten wurde die fortgesetzte Zusammenarbeit von Frontex mit Libyen unter die Lupe genommen, obwohl Frontex jegliche Zusammenarbeit mit dem Staat leugnet. Europäische Journalist*innen und Nichtregierungsorganisationen haben eine wachsende Zahl von Beweisen gesammelt, die das Gegenteil nahelegen. Dokumente, die im Oktober auf Antrag der europäischen Transparenzgruppe FragDenStaat veröffentlicht wurden, zeigen, dass Frontex sogar die Standorte von Schlauchbooten direkt an die sogenannte libysche Küstenwache übermittelt. Darüber hinaus belegen Whatsapp-Austausche ihre Zusammenarbeit und Kooperation miteinander.
Trotz alledem wurde diskutiert, die Frontex-Beamt*innen bis zum Sommer 2021 mit Waffen auszustatten. Dazu kam es bis zum Sommer nicht, da das Budget von Frontex durch das Europäische Parlament blockiert wurde. Kürzlich wurde jedoch bekannt, dass Frontex einen Waffenhersteller in Österreich ausgewählt hat, um sich mit Waffen auszustatten. Am 9. Dezember dieses Monats gab Frontex bekannt, dass der Exekutivdirektor von Frontex, Fabrice Leggeri, mit dem litauischen Innenminister Agnė Bilotaitė eine Vereinbarung über den Einsatz von Frontex-Beamt*innen mit von Litauen bereitgestellten Dienstwaffen unterzeichnet hat. Im Jahr 2022 werden die Frontex-Beamt*innen also mit Waffen ausgerüstet sein - eine beängstigende Ergänzung im Kampf der EU gegen Migration und Externalisierung.
Hochwertige Technik
Im Jahr 2021 hat sich der Schwerpunkt der Investitionen in hochwertige Technologie an den Grenzen weiter verschoben. Der Zaun an der griechisch-türkischen Grenze wurde nach dem Fall von Kabul im August um 40 km verlängert und mit Schallkanonen und Drohnen zur Überwachung des Grenzgebiets ausgestattet. Die polnische Grenze zu Weißrussland wird zur neuesten technologischen Frontlinie, da Polen eine 350 Millionen Euro teure Mauer entlang der Grenze genehmigt hat, die mit modernen Kameras und Bewegungsmeldern ausgestattet ist. Die beiden Guardian-Journalisten Kaamil Ahmed und Lorenzo Tondo haben eine Übersicht über die zahlreichen Spezialtechnologien der Europäischen Union zur Überwachung und Abschreckung von Menschen auf der Flucht erstellt (siehe unten). Sie stellen fest, dass die EU eine zentrale Rolle beim Ausbau ihrer Grenztechnologien in vielen verschiedenen Mitgliedstaaten gespielt hat. Zu den neuen Instrumenten, die von der EU eingesetzt werden, gehören Drohnen, Schallkanonen und Geräte, die Menschen anhand ihrer Körperwärme oder ihres Herzschlags erkennen.
Doch dies ist Teil eines langfristigen Trends: Seit 2018 haben Frontex und die Europäische Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs (EMSA) Militärdrohnen von Elbit und Unmanned Aerial Vehicle (IAI/UAV) unter Vertrag genommen. Elbit Systems, ein israelisches Rüstungsunternehmen, entwickelt seine Drohnen gemeinsam mit dem israelischen Militär und bewirbt seine Technologie als "felderprobt" - an Palästinenser*innen. Im Oktober 2020 unterzeichnete die EU zwei neue Verträge über die Lieferung von unbemannten Drohnen im Wert von jeweils 50 Millionen Euro. Diese Verträge bringen die Militarisierung der europäischen Grenzen auf die nächste Stufe und dienen keinem anderen Zweck, als Menschen, die Schutz und eine sichere Zukunft suchen, daran zu hindern, Europa zu erreichen. Im Jahr 2018 prognostizierte die EU, dass der europäische Sicherheitsmarkt bis 2020 auf 128 Mrd. EUR anwachsen wird. In diesem Jahr deckte ein Team von investigativen Journalist*innen enge Verbindungen zwischen Frontex und der Waffenindustrie auf. Nutznießer sind Waffen- und Technologieunternehmen, die die EU und die Mitgliedsstaaten massiv umwerben.
Legalisierung von Pushbacks
2021 wurde in einigen Staaten die Legalisierung von Pushbacks in Angriff genommen. Ungarn hat Pushbacks bereits 2015 erfolgreich legalisiert, d. h. die ungarische Polizei darf nun Asylbewerber*innen, die auf ungarischem Gebiet in einem Umkreis von 8 km von der serbisch-ungarischen oder der kroatisch-ungarischen Grenze aufgegriffen werden, automatisch zurückschieben.
Am 7. Oktober dieses Jahres erklärten 12 EU-Mitgliedstaaten, dass alle Außengrenzen "mit einem Höchstmaß an Sicherheit geschützt werden müssen". Ihr Vorschlag beinhaltete die Idee, "den bestehenden Rechtsrahmen an die neuen Realitäten anzupassen". Im Wesentlichen forderten sie die Legalisierung von Pushbacks, die Finanzierung von Grenzmauern durch die EU und Maßnahmen, um auf einen "hybriden Angriff zu reagieren, der durch einen künstlich erzeugten Massenzustrom von irregulären Migranten gekennzeichnet ist". Am 14. Oktober verabschiedete Polen ein Gesetz zur Legalisierung von Pushbacks als Reaktion auf die anhaltende und sich verschlechternde Situation an der polnisch-belarussischen Grenze.
Am 21. Oktober veröffentlichte der Menschenrechtskommissar des Europarats eine Erklärung, in der er die EU-Mitgliedstaaten aufforderte, die laufenden Pushbacks zu stoppen und jeden Versuch, diese illegale Praxis zu legalisieren, unverzüglich zu beenden. Der Europarat hat sich zunehmend besorgt über die Menschenrechtsverletzungen gegenüber Menschen auf der Flucht geäußert. Dies gilt insbesondere für die Verweigerung des Zugangs zu Asyl und für Rückführungen ohne individuelle Schutzmaßnahmen, die häufig mit brutaler Gewalt oder der Gefährdung von Menschenleben einhergehen. Das Problem besteht also nicht nur darin, dass es eine wachsende Bewegung gibt, die Pushbacks legalisieren will, sondern dass sie in vielen EU-Mitgliedstaaten bereits zur Norm geworden sind.
In einem kürzlich ergangenen Urteil gegen eine unserer Partnerorganisationen im BVMN, "Are You Syrious?", wurde deren ehrenamtlicher Mitarbeiter Dragan Umičević vom Obersten Strafgericht in Zagreb für schuldig befunden. Ihm wurde vorgeworfen, die Familie der kleinen Madina, eines sechsjährigen Mädchens, das bei einer illegalen Rückführung aus Kroatien starb, bei der illegalen Überfahrt unterstützt zu haben. In dem Urteil wurde "Are You Syrious?" zur Zahlung einer hohen Geldstrafe verurteilt. Obwohl das Gericht zugab, dass sich die Familie von Madina bereits in Kroatien befand, wertete es die Aktionen von Are You Syrious?" als Unterstützung eines illegalen Grenzübertritts. Dies stellt einen gefährlichen Präzedenzfall dar, denn es bedeutet, dass jeder wegen Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt angeklagt werden kann, unabhängig davon, wo er sich befindet. Darüber hinaus schrieb das Gericht, dass Dragan Umičević wusste, dass "das Asyl der Familie bereits zweimal abgelehnt wurde", was bedeutet, dass die Gerichte einen Pushback als Asylverfahren interpretieren.
Wie wird das Jahr 2022 aussehen? - Hybride Kriegsführung
Wir wissen nicht, wie dieser Krieg gegen die Migration weitergehen wird. Wir sind keine Expert*innen für Migration und EU-Politik. Wenn wir uns jedoch die Trends der letzten Jahre ansehen, sehen wir voraus, dass Gewalt und Leid nur noch schlimmer werden. Konversative, einwanderungsfeindliche Kräfte werden an Einfluss gewinnen und jene Teile der EU erpressen, die noch versuchen könnten, nach einer wertebasierten Politik zu handeln. Es wird Geld in die Grenzen investiert, und ein ganzer grenzindustrieller Komplex profitiert von der zunehmenden einwanderungsfeindlichen Stimmung. Der Aktivismus der Zivilgesellschaft konzentriert sich vor allem auf die Rettung von Menschenleben, da Organisationen wie Josoor oder Search and Rescue dort einspringen, wo die Staaten ihren Pflichten nicht nachkommen. Und mit dieser Art von "Einmischung" wird die Kriminalisierung der Solidarität weiter voranschreiten.
Das Problem ist, dass sich die Europäische Union im Krieg befindet. Staaten auf der ganzen Welt versuchen, sich durch die so genannte "hybride Kriegsführung" strategische Vorteile zu verschaffen. Dabei handelt es sich um das Konzept, Schwachstellen des Gegners auszunutzen, um ihn anzugreifen, ohne unbedingt physische Gewalt anzuwenden. In Verbindung mit der physischen Gewalt an den Außengrenzen der EU und dem Erstarken der extremen Rechten in ganz Europa zeichnet sich eine düstere Zukunft für die kommenden Jahre ab. Die Schwachstelle der EU ist, dass sie ihren selbsternannten Standards nicht gerecht wird, indem sie eine unmenschliche, restriktive Migrationspolitik vertritt.
Es hat sich selbst in eine Lage gebracht, in der es ständig durch Aktionen, wie wir sie an der polnisch-weißrussischen Grenze erleben, erpresst werden kann. Außerdem werden Bürger*innen, die noch an die Menschenrechte glauben, in absehbarer Zeit keine offene Gewalt gegen Menschen auf der Flucht zulassen. Daher wird es die Staaten an seinen Grenzen immer dafür bezahlen, sie - und die ihnen angetane Gewalt - aus dem Blickfeld zu halten.
Aber das ist keine nachhaltige Lösung. Wenn Europa nicht den Anspruch aufgeben will, eine Ansammlung von Staaten zu sein, die auf humanitären Prinzipien und Werten beruht, kann es nur eine Lösung geben. Europa muss sich der Realität der Migration stellen, den eskalierenden Krieg gegen die Migration beenden und endlich erkennen, dass die Unterstützung von Menschen auf der Flucht kein Risiko, sondern eine Chance darstellt - und einfach das Richtige ist.
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