Aktivismus

Gewalt und systematischen Entwürdigung von Schutzsuchenden an der Grenze

Dokumentation der Menschenrechtsverletzungen an der türkisch- griechischen Grenze im März 2020

Circa 15.000 bis 20.000 Menschen hielten sich ab Ende Februar und bis zum 26.3.2020 am Grenzübergang Pazarkule (Türkei) auf, in der Hoffnung, in die EU einreisen zu können. In dieser Zeit wurden sie mehrfach Opfer von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. In diesem Post haben wir die wichtigsten Ereignisse gesammelt.

HINTERGRUND


Die Öffnung der türkischen Grenzen in Richtung Griechenland veranlasste tausende Geflüchtete - unter ihnen viele Frauen und Kinder - wieder auf eine Einreise nach Europa zu hoffen und sich selbstständig zur Grenze zu begeben. Etliche Menschen wurden allerdings aus geschlossenen Lagern in Busse gezwungen und teilweise unter Gewaltanwendung vonseiten der türkischen Polizei an die Grenze gebracht. 

Dort wurden sie von türkischen Beamten immer wieder, manchmal mit vorgehaltener Waffe, zum Grenzübertritt gezwungen oder aufgefordert, die Grenze zu stürmen. Teilweise wurden sie sogar auf die andere Seite der Grenze verfrachtet. Der Weg führte entweder durch NATO- Stacheldraht oder durch den reißenden Grenzfluss Evros. 

Auf griechischer Seite wurden die Menschen festgenommen und systematisch körperlich misshandelt. Fast alle wurden mehrfach geschlagen, oft mit Schlagstöcken oder Peitschenhieben. Alle wurden auch ihrer Papiere, Telefone und Geld beraubt, teilweise auch ihrer Kleidung und Schuhe. Alle wurden unter angedrohter oder tatsächlich angewendeter Gewalt in illegalen Pushbacks zurück in die Türkei gebracht, viele Menschen nur in Unterwäsche bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Außerdem setzten die griechisch-europäischen Grenzschutztruppen Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Das eingesetzte Tränengas war teilweise seit über 20 Jahren abgelaufen und somit stark toxisch. Der Antrag auf Asyl wurde in jedem Fall verwehrt, einige Menschen wurden inhaftiert und bekamen hohe Geldstrafen für den Grenzübertritt.

Im abgeriegelten Lager auf der türkischen Seite (Pazarkule) wurden die Menschen nur äußerst unzureichend mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt, hatten keinen Schutz vor Kälte und Nässe und bis auf einzelne mobile Toiletten keine sanitären Einrichtungen zur Verfügung. Sie mussten bis zu acht Stunden lang für das wenige Essen anstehen und wurden dabei regelmäßig geschlagen, wenn sie nicht korrekt in der Reihe standen.

Von den etwa 20.000 Menschen, die in dem „wilden Camp“ eingesperrt waren, durften die meiste Zeit über etwa 200 täglich das Areal verlassen und in das nahe gelegene Dorf Karaağaç gehen um sich - sofern sie noch Geld hatten - mit dem Notwendigsten aus dem dortigen Supermarkt zu versorgen.

Auch bei Regen und Minusgraden hatten die Menschen keine andere Wahl als im Schlamm auf den Äckern rund um das Grenzgebiet unter freiem Himmel zu schlafen. Die Versorgung durch türkische Organisationen sowie dem Roten Halbmond war absolut unzureichend, insbesondere Lebensmittel, Medikamente, Decken und Regenplanen gab es nur sehr begrenzt, echte Zelte gar nicht.

Nachdem es den Menschen ab dem 17.3.2020  nicht mehr gestattet war, das Grenzgebiet zu verlassen, wurden die wenigen Lebensmittelrationen zusätzlich stark reduziert: ein Sandwich, eine Flasche Saft und einen Keks (19.3.) pro Tag; keine Verpflegung für Männer (20.3.); zeitweise nur noch ein paar Cracker (22.3.). 

Medizinische Versorgung gab es keine, auch nicht für chronisch Kranke oder Behinderte, lediglich vereinzelt Krankenwagen für Schwerverletzte. Duschen und fließendes Wasser gab es nicht. 

Ab dem 14.3. wurden kostenlose Bussen zurück in Richtung Istanbul geboten. Später wurde diese Option auch als Druckmittel verwendet, wenn Menschen zögerten, die Grenze erneut zu überqueren. In Istanbul strandeten viele Menschen, bis zu 100 täglich, am Busbahnhof Esenler. Bis wir dort einen Raum, Lebensmittel etc. organisierten, gab es keine Versorgung, keine Schlafmöglichkeiten, die Menschen schliefen auf den Außentreppen einer Moschee. 

Am 23.3. waren laut offiziellen Angaben noch mindesten 5800 Menschen im “Camp” an der Grenze, viele andere hatten aufgegeben und waren in andere Teile der Türkei gereist. Wir gehen von 6000-7000 Menschen aus, da die offizielle Schätzung auf Grundlage der ausgeteilten Essenspakete getroffen wurde, wir aber wissen, dass viele Menschen keine solchen erhielten. 

Am Nachmittag des 26.3.2020 wurde unter Gewaltanwendung die Räumung des Camps bei Pazarkule begonnen. Die letzten etwa 6.000 an der Grenze verbliebenen Menschen wurden zur Zwangsquarantäne an neun unterschiedliche, abgeriegelte Orte im gesamten Land transportiert. Die türkische Polizei setzte das Lager in Pazarkule mitsamt allen verbliebenen Habseligkeiten der Menschen in Brand, noch während sich tausende Menschen in unmittelbarer Umgebung befanden.

Wir stehen in Kontakt mit Geflüchteten in einigen der Lager - insbesondere denen in Malatya, Osmaniye, Düziçi, Kırklareli, Edirne und İstanbul. Noch kann niemand kann vorhersagen, was nach den zwei Wochen Quarantäne ab dem 10.3.2020 mit ihnen geschehen wird.

Ca. 250 Menschen entschieden sich, sich vor den Behörden versteckt weiter an der aussichtslosen Grenzüberquerung zu versuchen. Sie verbleiben bis heute in Büschen und verlassenen Häusern in der Grenzregion um Pazarkule/Edirne.

Alle anderen wurden in Busse verfrachtet und, entgegen dem Versprechen, sie würden nach Istanbul gebracht, an unterschiedliche Orte in der Türkei gebracht, viele in der Nähe der syrischen Grenze, etwa 1500km von Edirne entfernt. Bei der Ankunft wurden ihnen ihre Telefone abgenommen und sie unter geschlossene Zwangsquarantäne gestellt. 

Sie befinden sich nun in abgeriegelten Turnhallen, Abschiebegefängnissen oder alten Lagern. Keine der Unterkünfte wurde vor der Ankunft der Menschen gereinigt, die Lebensmittelversorgung und hygienischen Bedingungen sind abermals unzureichend, viele Menschen frieren.

Am 1.4. wurden sie gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sie bestätigen, dass ihnen keine Gewalt angetan wurde und sie nicht gezwungen wurden, in die Busse zu steigen oder in die Camps gebracht zu werden.

Am 3.4.2020 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, der die Gerüchte über Tote zumindest in zwei Fällen bestätigt.



DOKUMENTATION:

1:06 - 2:40 - Anfang der Geschichte und türkischer Druck 

2:40 - 3:00 - Griechische Patrouille konfisziert Taschen

3:00 - 3:38 - Menschen kehren ohne Kleidung in die Türkei zurück 

https://www.youtube.com/watch?v=mmAxFBv9iF4&feature=share&fbclid=IwAR0L7x5MmCyZanHmTEV+0Egjs2kZKQQ_wH13_wvTRaBEpG3JkgCnwzTWIRIs



VIDEO-MATERIAL (Auswahl)


BILDER (Auswahl)

Weitere Informationen zu den potentiell tödlichen Tränengas-Projektilen: https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2020/03/04/greek-security-services-may-be-using-potentially-lethal-tear-gas-munitions/ (Englisch) 


HINTERGRUND


Die Öffnung der türkischen Grenzen in Richtung Griechenland veranlasste tausende Geflüchtete - unter ihnen viele Frauen und Kinder - wieder auf eine Einreise nach Europa zu hoffen und sich selbstständig zur Grenze zu begeben. Etliche Menschen wurden allerdings aus geschlossenen Lagern in Busse gezwungen und teilweise unter Gewaltanwendung vonseiten der türkischen Polizei an die Grenze gebracht. 

Dort wurden sie von türkischen Beamten immer wieder, manchmal mit vorgehaltener Waffe, zum Grenzübertritt gezwungen oder aufgefordert, die Grenze zu stürmen. Teilweise wurden sie sogar auf die andere Seite der Grenze verfrachtet. Der Weg führte entweder durch NATO- Stacheldraht oder durch den reißenden Grenzfluss Evros. 

Auf griechischer Seite wurden die Menschen festgenommen und systematisch körperlich misshandelt. Fast alle wurden mehrfach geschlagen, oft mit Schlagstöcken oder Peitschenhieben. Alle wurden auch ihrer Papiere, Telefone und Geld beraubt, teilweise auch ihrer Kleidung und Schuhe. Alle wurden unter angedrohter oder tatsächlich angewendeter Gewalt in illegalen Pushbacks zurück in die Türkei gebracht, viele Menschen nur in Unterwäsche bei Temperaturen um den Gefrierpunkt. Außerdem setzten die griechisch-europäischen Grenzschutztruppen Tränengas, Wasserwerfer, Gummigeschosse und scharfe Munition ein. Das eingesetzte Tränengas war teilweise seit über 20 Jahren abgelaufen und somit stark toxisch. Der Antrag auf Asyl wurde in jedem Fall verwehrt, einige Menschen wurden inhaftiert und bekamen hohe Geldstrafen für den Grenzübertritt.

Im abgeriegelten Lager auf der türkischen Seite (Pazarkule) wurden die Menschen nur äußerst unzureichend mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt, hatten keinen Schutz vor Kälte und Nässe und bis auf einzelne mobile Toiletten keine sanitären Einrichtungen zur Verfügung. Sie mussten bis zu acht Stunden lang für das wenige Essen anstehen und wurden dabei regelmäßig geschlagen, wenn sie nicht korrekt in der Reihe standen.

Von den etwa 20.000 Menschen, die in dem „wilden Camp“ eingesperrt waren, durften die meiste Zeit über etwa 200 täglich das Areal verlassen und in das nahe gelegene Dorf Karaağaç gehen um sich - sofern sie noch Geld hatten - mit dem Notwendigsten aus dem dortigen Supermarkt zu versorgen.

Auch bei Regen und Minusgraden hatten die Menschen keine andere Wahl als im Schlamm auf den Äckern rund um das Grenzgebiet unter freiem Himmel zu schlafen. Die Versorgung durch türkische Organisationen sowie dem Roten Halbmond war absolut unzureichend, insbesondere Lebensmittel, Medikamente, Decken und Regenplanen gab es nur sehr begrenzt, echte Zelte gar nicht.

Nachdem es den Menschen ab dem 17.3.2020  nicht mehr gestattet war, das Grenzgebiet zu verlassen, wurden die wenigen Lebensmittelrationen zusätzlich stark reduziert: ein Sandwich, eine Flasche Saft und einen Keks (19.3.) pro Tag; keine Verpflegung für Männer (20.3.); zeitweise nur noch ein paar Cracker (22.3.). 

Medizinische Versorgung gab es keine, auch nicht für chronisch Kranke oder Behinderte, lediglich vereinzelt Krankenwagen für Schwerverletzte. Duschen und fließendes Wasser gab es nicht. 

Ab dem 14.3. wurden kostenlose Bussen zurück in Richtung Istanbul geboten. Später wurde diese Option auch als Druckmittel verwendet, wenn Menschen zögerten, die Grenze erneut zu überqueren. In Istanbul strandeten viele Menschen, bis zu 100 täglich, am Busbahnhof Esenler. Bis wir dort einen Raum, Lebensmittel etc. organisierten, gab es keine Versorgung, keine Schlafmöglichkeiten, die Menschen schliefen auf den Außentreppen einer Moschee. 

Am 23.3. waren laut offiziellen Angaben noch mindesten 5800 Menschen im “Camp” an der Grenze, viele andere hatten aufgegeben und waren in andere Teile der Türkei gereist. Wir gehen von 6000-7000 Menschen aus, da die offizielle Schätzung auf Grundlage der ausgeteilten Essenspakete getroffen wurde, wir aber wissen, dass viele Menschen keine solchen erhielten. 

Am Nachmittag des 26.3.2020 wurde unter Gewaltanwendung die Räumung des Camps bei Pazarkule begonnen. Die letzten etwa 6.000 an der Grenze verbliebenen Menschen wurden zur Zwangsquarantäne an neun unterschiedliche, abgeriegelte Orte im gesamten Land transportiert. Die türkische Polizei setzte das Lager in Pazarkule mitsamt allen verbliebenen Habseligkeiten der Menschen in Brand, noch während sich tausende Menschen in unmittelbarer Umgebung befanden.

Wir stehen in Kontakt mit Geflüchteten in einigen der Lager - insbesondere denen in Malatya, Osmaniye, Düziçi, Kırklareli, Edirne und İstanbul. Noch kann niemand kann vorhersagen, was nach den zwei Wochen Quarantäne ab dem 10.3.2020 mit ihnen geschehen wird.

Ca. 250 Menschen entschieden sich, sich vor den Behörden versteckt weiter an der aussichtslosen Grenzüberquerung zu versuchen. Sie verbleiben bis heute in Büschen und verlassenen Häusern in der Grenzregion um Pazarkule/Edirne.

Alle anderen wurden in Busse verfrachtet und, entgegen dem Versprechen, sie würden nach Istanbul gebracht, an unterschiedliche Orte in der Türkei gebracht, viele in der Nähe der syrischen Grenze, etwa 1500km von Edirne entfernt. Bei der Ankunft wurden ihnen ihre Telefone abgenommen und sie unter geschlossene Zwangsquarantäne gestellt. 

Sie befinden sich nun in abgeriegelten Turnhallen, Abschiebegefängnissen oder alten Lagern. Keine der Unterkünfte wurde vor der Ankunft der Menschen gereinigt, die Lebensmittelversorgung und hygienischen Bedingungen sind abermals unzureichend, viele Menschen frieren.

Am 1.4. wurden sie gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, mit dem sie bestätigen, dass ihnen keine Gewalt angetan wurde und sie nicht gezwungen wurden, in die Busse zu steigen oder in die Camps gebracht zu werden.

Am 3.4.2020 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, der die Gerüchte über Tote zumindest in zwei Fällen bestätigt.



DOKUMENTATION:

1:06 - 2:40 - Anfang der Geschichte und türkischer Druck 

2:40 - 3:00 - Griechische Patrouille konfisziert Taschen

3:00 - 3:38 - Menschen kehren ohne Kleidung in die Türkei zurück 

https://www.youtube.com/watch?v=mmAxFBv9iF4&feature=share&fbclid=IwAR0L7x5MmCyZanHmTEV+0Egjs2kZKQQ_wH13_wvTRaBEpG3JkgCnwzTWIRIs



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BILDER (Auswahl)

Weitere Informationen zu den potentiell tödlichen Tränengas-Projektilen: https://www.bellingcat.com/news/uk-and-europe/2020/03/04/greek-security-services-may-be-using-potentially-lethal-tear-gas-munitions/ (Englisch) 


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