Seit drei Monaten arbeiten wir jetzt rund um die Uhr in der “Flüchtlingshilfe” in der Türkei. Bis auf vier Tage im März, als ich an der türkisch- griechischen Grenze war, tue ich das von meiner Wohnung in Wien aus.
Ich könnte so viel erzählen. Von Lehrer*innen, und Krankenpfleger*innen, mit denen ich seit drei Monaten in der Türkei in Kontakt stehe. Von Menschen, die von ihrer Rolle als Helfende plötzlich in die von Hilfsbedürftigen gezwungen wurden. Von Menschen, die hofften, ein neues Leben aufbauen zu können und jetzt vor dem Nichts stehen.
Tag und Nacht bin ich mit dem Schicksal dieser Menschen konfrontiert. Sie sind am Ende. Menschen, die nichts lieber getan hätten, als zuhause zu bleiben und in Frieden zu leben. Menschen, die alles zurücklassen mussten, weil sie einfach nicht mehr bleiben konnten. Rund um die Uhr bekomme ich Nachrichten. “Wir sitzen auf der Straße, was sollen wir tun? Wir haben zwei kleine Kinder.” “Wir haben kein Essen, und wir haben schon 1000 Lira Schulden bei unserem Supermarkt. Könnt ihr uns helfen?” “Ich wurde aus dem Krankenhaus in Griechenland zurückgeschoben. Ich hatte einen Autounfall, bin operiert worden und habe einen externe Fixateur. Die griechische Polizei hat mir mein ganzes Geld abgenommen. Ich kann keinen Arzt bezahlen. Was soll ich machen?”
Nachrichten von Menschen, die vorher Lehrer*innen waren, Journalist*nnen, DJs, Bauarbeiter, Krankenschwestern oder Student*innen. Menschen, die alles verloren haben - ihr Zuhause, Angehörige, Perspektiven.
Menschen, die kein Land aufnehmen will.
Immer wieder sitze ich weinend an meinem Schreibtisch, lese ihre Nachrichten und weiß nicht, ob ich dankbar für meine Wohnung und meinen Pass sein darf oder mich schämen soll.
Die EU und die Türkei (und andere Länder auf der anderen Seite der Außengrenze) schieben diese verzweifelten Menschen wie Schachfiguren zwischen sich hin und her - und überbieten sich dabei in ihrer Grausamkeit im Umgang mit ihnen.
Menschen, die nichts verbrochen haben, die nur einen Ort suchen, an dem sie in Frieden leben können, werden missbraucht, verprügelt, ausgeraubt und erniedrigt. Anstatt ihr Recht auf einen Asylantrag wahrnehmen zu können, werden sie wie Kriminelle behandelt. Ihr Tod wird schon lange in Kauf genommen, durch unterlassene Hilfeleistung aus politischem Kalkül. Mittlerweile werden sie sogar aktiv umgebracht.
Die EU hat es so lange nicht zustande gebracht, sich auf eine Lösung zu einigen, dass die Situation jetzt entlang der gesamten Außengrenze eskaliert. Malta inhaftiert Menschen auf Booten und beauftragt Kriminelle, sie nach Libyen zurückzuschieben. Kroatien markiert Menschen wie Vieh bevor sie zurückgeschoben werden. Bosnien kriminalisiert Flüchtlingshilfe. Griechenland hat ein geheimes Budget für Pushbacks beschlossen und schiebt, genauso wie Serbien, registrierte Asylwerber*innen noch vor der erstinstanzlichen Entscheidung im Asylverfahren ab. Verprügelt und ausgeraubt werden sie dabei fast immer, oft bis auf ihre Unterwäsche.
Die Politiker*innen in Europa haben so lange Hass und Xenophobie geschürt, dass wir wieder an einem Punkt in der Geschichte angekommen sind, an dem das Leben von manchen Menschen als unwert erachtet wird, sie also faktisch als Untermenschen angesehen werden.
Das mag übertrieben klingen. Aber wie sonst ist es möglich, dass unterlassene Hilfeleistung zur offiziellen Regelung wird? Wie sonst ist es möglich, Menschen auf einem sinkenden Boot nicht zu retten, sondern mit scharfer Munition zu beschießen? Wie sonst ist es möglich, jemanden direkt nach einer OP und mit gerade angebrachtem externen Fixateur am Bein aus dem Krankenhaus zu holen, in ein Boot zu setzen und ihn über den Evros zu schicken?
Gleichzeitig ziehen sich, vor allem seit Beginn der Pandemie, die großen Organisationen, die sich eigentlich um Geflüchtete kümmern sollten, immer mehr zurück. Die zunehmende Last müssen kleine Initiativen der Zivilgesellschaft stemmen - und auch diese werden zunehmend kriminalisiert. Das, was schon seit Jahren am Mittelmeer die Norm war, gilt jetzt auch an Land.
In Deutschland und Österreich haben Angriffe auf Geschäfte und Vereine von Menschen mit Migrationshintergrund so sehr zugenommen, dass es nicht mal mehr einen Aufschrei gibt. Während das Menschenrecht auf Asyl de facto ausgesetzt ist, begehen Behörden von EU- Mitgliedstaaten tagtäglich kriminelle Handlungen, die immer brutaler und erniedrigender werden. Und wenn Medien darüber berichten, dann werden sie mittlerweile offiziell als Propaganda für den Nachbarstaat diskreditiert und zum Staatsfeind ernannt - unabhängig davon, wie viele Beweise sie auch bringen.
Die Geschichte hat uns gelehrt, was passiert, wenn Menschen ihr Menschsein abgesprochen wird. Ob Südafrika, Ruanda, oder Nazi- Deutschland: die Anfänge waren ähnlich, und das Ende schrecklich.
Es gab Momente in der Zeit seit März - die sich mittlerweile wie eine Ewigkeit anfühlt - in denen ich über Opposition und Widerstand nachgedacht habe. Wann wird das eine zum anderen? Widerstand beginnt an dem Punkt, an dem Opposition kriminalisiert wird. Und diesen Punkt haben wir bereits überschritten. Noch nicht flächendeckend, noch nicht überall offiziell. Aber nach Jahren der Kriminalisierung von Seenotrettung, nach Verhaftung von und Einreiseverboten für Flüchtlingshelfer*innen in mehreren EU- Ländern, ist der Schritt in Bosnien nur ein weiterer in Richtung absoluter Kriminalisierung.
Im Sommer 2015 war es unvorstellbar, dass all das einmal möglich sein würde. In den folgenden Jahren war diese Tendenz klar erkennbar, doch die Hoffnung ist geblieben, dass wir das Ruder noch herumreißen können. Die letzten Monate haben gezeigt, dass Geflüchtete von Europa (fälschlicherweise) nicht mehr nur als Last gesehen werden, die man sich gegenseitig zuschiebt, sondern als Menschen zweiter Klasse, die keinen Anspruch auf die Menschenrechte haben, die wir für uns in Anspruch nehmen und so stolz auf unsere Fahnen heften.
Doch Menschenrechte sind und müssen universell, unveräußerlich und unteilbar sein. Wenn wir nun nicht mehr nur an der praktischen Umsetzung scheitern sondern auch schon theoretisch debattieren, ob sie für manche eingeschränkt werden sollten, dann ist der Schritt zur faktischen Abschaffung der Menschenrechtskonventionen nur mehr ein winziger.
“Für mich ist es besser, wenn diese Welt endet” hat mir heute ein Marokkaner in Istanbul geschrieben, nachdem wir uns darüber unterhalten haben, was gerade an den europäischen Grenzen passiert. Die Europäische Union, die sich gerne als Wiege der Menschenrechte versteht und stolze Trägerin des Friedensnobelpreises ist, schafft gerade ihre eigenen Prinzipien ab - und damit sich selbst.
Weder in Zeiten von Corona noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt lassen sich Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen. Weder jetzt noch irgendwann dürfen wir stillschweigend dabei zusehen, wie Schutzsuchenden Gewalt angetan wird. Wir wollen ein solidarisches, gerechtes und offenes Europa. Wenn wir das nicht schaffen, dann wird es Europa wie wir es kennen bald gar nicht mehr geben. Wir alle, jeder und jede Einzelne, müssen dafür kämpfen, an jedem einzelnen Tag.